Der Beruf des «Wasenmeisters»

  06.05.2019 Nordwestschweiz

Heinz Speiser beseitigt seit 45 Jahren Tierkadaver

Einst wurden sie von der Gesellschaft geächtet, heute ist das Amt des Wasenmeisters eines wie jedes andere auch. Der bald 80-jährige Heinz Speiser nimmt sich seit bald 45 Jahren der toten Tiere in Wintersingen an.

Michèle Degen – Volksstimme

WINTERSINGEN BL. Eigentlich gibt es ihn seit dem 1. Januar 2014 offiziell nicht mehr, den Wasenmeister. Dann wurde die Bezeichnung aus den Texten des Tierseuchengesetzes gestrichen. Seither übernimmt in immer mehr Kommunen der Gemeindearbeiter die Aufgabe des Wasenmeisters. Doch das Amt, das einen Dorfbewohner für die Entsorgung von Tierkadavern verantwortlich macht, ist deshalb nicht aus den Gemeinden verschwunden. In Wintersingen beispielsweise gibt es den Wasenmeister noch. Der bald 80-jährige Heinz Speiser hat das Amt inne und das schon seit 45 Jahren.

Jeden Montagmorgen geht oder – je nach Wetter – fährt Speiser die knapp 300 Meter von seinem Haus an der Hauptstrasse zur Gemeindeverwaltung. Hinter der Verwaltung, bei der alten Feuerwehr, befindet sich die Kadaversammelstelle von Wintersingen. Auf dem Weg grüsst er die Dorfbewohner, die gerade in ihre Autos steigen, um zur Arbeit zu fahren, oder auf den Bus wollen. Speiser schliesst die Maschendrahttür zum ehemaligen Schopf auf und geht hinein. Auf der linken Seite steht unauffällig die Kühltruhe. Er öffnet die Tür, wirft einen kurzen Blick aufs Thermometer – «0 Grad Celsius, alles in Ordnung» – und hievt danach den ersten Kübel aus der Box. Darin eines von zwei Zwillingskälbchen, die nach der Geburt nicht überlebt haben. Bis zu vier Tonnen passen in den Kühler. Voll sind sie allerdings selten. «Es gibt Wochen, da ist überhaupt nichts drin», sagt Speiser, während er den schweren Kübel über den Boden vor die Tür zieht.

Der Beruf des Wasenmeisters, auch Abdecker genannt, kam vermutlich irgendwann im frühen Mittelalter auf. Den Bauern war es wichtig, Tierkadaver möglichst rasch zu beseitigen, um die Verbreitung von Krankheiten zu verhindern. Dazu kam, dass Pferdefleisch nicht auf dem Teller der Menschen jener Zeit landete. Ebenso wenig wie das von Hunden. Der Abdecker hatte die Aufgabe, Tierkadaver aus dem Wohngebiet zu entfernen. Zuerst wurden die Tierkörper einfach in eine Grube geworfen. Zu späterer Zeit mussten sie – aus Hygienegründen und wegen des Geruchs nach Verwesung – auf dem sogenannten Wasenplatz oder Schindanger «sechs Schuh tief» vergraben werden. Im Mittelalter verdiente der Wasenmeister seinen Lebensunterhalt durch den Verkauf der Haut, die er den Kadavern abzog. Die Wasenplätze waren zuerst recht nah am Siedlungsgebiet gelegen. Später wurden sie in grösserer Entfernung zu den Häusern angelegt und waren meist von einer Mauer oder Gebüsch umgeben, bevor die modernen Tierkörperverwertungsanlagen gebaut wurden. Die Wasenplätze blieben jedoch auch danach noch lange bestehen. Erst 1993 wurde ihr Betrieb als Massnahme gegen die Verbreitung des Rinderwahnsinns eingestellt. Speiser hat derweil die zweite, deutlich leichtere Tonne nach draussen bugsiert. Dann schliesst er die Tür zum Schopf wieder. «Das wäre es eigentlich schon», sagt er. Die Tonnen werden im Laufe des Morgens von der Automobilgesellschaft Sissach-Eptingen abgeholt und durch leere ersetzt.

Wasenmeister und Scharfrichter
So kommen in 45 Jahren einige Erinnerungen zusammen. Vor Jahren seien einmal zwei Mädchen zu ihm gekommen. In den Händen eine Kartonschachtel mit einem toten Vogel. «Das war so herzig, das vergesse ich nicht mehr», sagt Speiser und lacht. Doch obwohl Speiser dieses Amt schon so lange ausübt: «Manchmal ‹tschuuderets› mich immer noch.» Zum Beispiel, als ein junger Mann auf dem Weg zum Einkaufen mit seiner Mutter eine Katze überfahren hatte. «In der Eile hat er das Tier in den Kofferraum gelegt und ist zum Einkaufen aufgebrochen. Wieder zurück hat er bei mir den Schlüssel abgeholt und das Tier entsorgt», erzählt Speiser. «Später am Tag holte ein anderer Dorfbewohner den Schlüssel und rief kurz darauf an. Es kratze etwas in der Tonne, sagte er mir», Speiser zieht die Schultern hoch. «Die Katze lebte noch.»

In der Gesellschaft des Mittelalters war der Wasenmeister geächtet. Häufig war er gleichzeitig auch der Scharfrichter. Speiser übt das Amt, das er zusammen mit dem Gasthaus Rössli im April 1974 von seinem Schwiegervater übernommen hat, gerne aus. Doch der 79-Jährige denkt darüber nach, die Arbeit abzugeben.


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