Blick zurück auf die Zeitenwende 1918

  26.10.2018 Rheinfelden

Vortrag von Jürg Stüssi-Lauterburg

1918, es war wohl das schlimmste Jahr in der jüngeren Geschichte Rheinfeldens: Noch immer war Krieg und auch in der Schweiz wütete die Spanische Grippe. Zu diesem Thema sprach am Mittwochabend im Fricktaler Museum der Historiker Jürg Stüssi-Lauterburg.

Edi Strub

Dr. Jürg Stüssi-Lauterburg hatte zu diesem schwierigen Jahr 1918 unzählige Zeitungsauschnitte und Zeugnisse von Zeitgenossen aufbereitet. Da war zum Beispiel die Meldung, dass die Gottesdienste in allen Rheinfelder Kirchen eingestellt werden müssen, weil die Ansteckungsgefahr durch die Spanische Grippe zu gross war. Auch das Kurtheater musste seine Tore auf unbestimmte Zeit schliessen. Weltweit wurden damals durch die grösste Pandemie nach der mittelalterlichen Pest zwischen 20 und 100 Millionen Menschen dahingerafft. Auch in der Schweiz starben 24 000 Menschen. Wirksame Gegenmittel gab es keine. Die Menschen wurden vor ihrem Tod blau und schwarz vom Blut, das sich unter ihrer Haut und in ihrer Lunge gesammelt hatte.

Mangel an Lebensmitteln
Und auch in der Schweiz gab es Mangel an Lebensmitteln. Pro Einwohner und Tag standen noch 250 Gramm Brot zur Verfügung und die Kartoffeln waren so teuer, dass viele sich dieses wertvolle Nahrungsmittel kaum mehr leisten konnten.

Zudem war noch immer Krieg. Dazu schrieb die Fricktaler «Volksstimme», eine Vorgängerin der Neuen Fricktaler Zeitung, am 15. August 1918: «Wir sind in das fünfte Kriegsjahr eingetreten und noch zeigt sich nirgends eine Spur, dass die Welt von der fluchwürdigen Mordepidemie bald erlöst werden könnte … Es ist, als ob die Kriegswütheriche immer verrückter würden.»

Dazu kam die politische Unruhe. Lenin hatte in Russland den kommunistischen Umsturz vom Zaune gerissen. Auch in der Umgebung von Rheinfelden war das im Kleinen zu spüren. Die «Neue Rheinfelder Zeitung» meldete am 14. November 1918: «Bolschewikistreiker versuchten am Dienstag hier (in Stein) ab einem Zug die Lokomotive abzuhängen. Sie brachten dies wirklich zustande, mussten dann aber gezwungen von Soldaten mit vorgehaltenem Gewehr die Lokomotive wieder ankuppeln.»

Und aus Kaiseraugst meldete das Blatt, dass 30 Jungburschen in die Cellulosefabrik eingedrungen seien und die Geschäftsleitung zur Einstellung des Betriebs aufgefordert hätten. Sonst würden sie am kommenden Tag früh wiederkommen und «andere Massregeln ergreifen».

Das sozialdemokratische «Volksrecht» stellte sich am ersten Jahrestag der kommunistischen Oktoberrevolution unverhohlen auf die Seite der russischen Revolutionäre: «Schon rötet die nahende Revolution den Himmel über Zentraleuropa; der erlösende Brand wird das ganze morsche blutdurchtränkte Gebäude der kapitalistischen Welt erfassen», schrieb das Blatt.

Grundlegende Änderungen
So weit kam es dann allerdings nie, wie Jürg Stüssi-Lauterburg feststellte. Der Generalstreik in der Schweiz, der insbesondere auf dem Land wenig befolgt wurde, musste nach einem Ultimatum des Bundesrates nach bloss zwei Tagen abgebrochen werden. Die Schweiz, die Schweizer Arbeiter und die Sozialdemokratische Partei suchten sich einen eigenen, pragmatischen Weg. Ernst Nobs, einer der Streikführer, wurde1919 zu vier Wochen Gefängnis verurteilt. Später aber wurde derselbe Mann als erster Sozialdemokrat zum Bundesrat und 1948 sogar zum Bundespräsidenten gewählt. Die Revolutionsphantasien, die Nobs als Chefredaktor des Volksrechts 1918 noch gehegt hatte, waren durch die politische Entwicklung und seinen persönlichen Wandel ad acta gelegt.

Jürg Stüssi-Lauterburg stiess mit seinen Ausführungen und Deutungen beim zahlreich erschienenen Publikum auf gespanntes Interesse. Sein Blick zurück auf die Zeitenwende 1918 zeigte, wie grundlegend sich die Schweiz und Rheinfelden ab 1918 gewandelt haben.


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