«Wir sind alles Kinder unserer Zeit»

  16.10.2018 Rheinfelden

Lesung und Gespräch mit Ueli Mäder in der Stadtbibliothek

Am Donnerstagabend las der bekannte Soziologe und Buchautor Ueli Mäder Passagen aus seinem Werk «68 – was bleibt». Unter der Moderation von Adrian Kohler tauchte das Publikum in die Welt vor fünfzig Jahren.

Clara Rohr-Willers

«Es sind halt no Ferie», erklärte die Bibliotheksleiterin Barbara Scholer dem Soziologen Ueli Mäder, als eine Viertelstunde vor Beginn der Lesung aus «68 – was bleibt» (Rotpunktverlag 2018) erst wenige Plätze besetzt waren. Kurz vor oder knapp nach 19 Uhr 30 kamen sie, die «68er» des unteren Fricktals und bestätigten die Nonchalance und Spontaneität, welche ihrer Generation anhaften. Beschwingt holte Ueli Mäder zusätzliche Stühle.

Optische Auffälligkeiten des Publikums, die man mit der oft verklärten oder aber kritisierten 68er-Bewegung assoziieren könnte, waren nur vereinzelt auszumachen. Hier und da ein Hut, eine bunte verwaschene Hose. Ansonsten eine friedliche und wohlwollende Stimmung unter Menschen, die auch der Bemerkung Adrian Kohlers «Das Thema 68er ist anziehend. Willkommen im Sit-in» nur ein höfliches Lächeln zollten. Was verbindet also die Menschen, die in jungen Jahren gegen das AKW Kaiseraugst demonstriert, den VCS, Mobility oder das Umweltabonnement lanciert haben, wie einige gegen Ende des Abends betonten?

Was machen wir aus dem, was die Gesellschaft aus uns macht?
Was Menschen dieser Generation verbinde, sei «das Systemkritisch-Nonkonforme, das demokratische Prozesse ausweiten will, neue Freiheiten für alle anstrebt und sich kulturell unkonventionell ausdrückt», schreibt Ueli Mäder im Buch «68 – was bleibt», in welchem er über 100 Zeitzeugen eine Stimme gibt. Anders als in anderen Büchern zum Thema handelt es sich dabei nicht nur um bekannte Persönlichkeiten. Ziel sei es gewesen, sich bewusst auf Menschen mit unterschiedlichen Ansichten zu jener Zeit einzulassen, erklärte Ueli Mäder dem Publikum. «Entscheidend für die 68er-Generation war der West-Ost-Gegensatz. Wir kämpften gegen die atomaren Aufrüstungspläne des Bundes in den Fünfzigern, gegen das idealisierte Bild der Schweiz, wie man es in den Sechzigern an der Expo darstellen wollte und gegen Autoritarismus.»

Adrian Kohler konfrontierte Ueli Mäder mit Zitaten aus der «Neuen Zürcher Zeitung», in denen dem Soziologen Naivität vorgeworfen wird. «Man sollte Vergangenheit nie ideologisch verklären», konterte darauf Ueli Mäder. «Wer die Gegenwart verstehen will, muss die Vergangenheit kennen. Kontinuitäten aber gibt es keine, die Welt ist komplex.» In den Interviews für das Buch habe ihn die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion vieler gefreut. «Viele wollen sich auch heute einfach sozial verhalten. Überhaupt ist die neue Gläubigkeit auf der anderen Seite zu finden.» Es sei eine Illusion, dass ein freier Markt den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ausgewogen regle, wie die «NZZ» propagiere.

«Fälschlicherweise wollten die 68er jegliche Widersprüche eliminieren und kopierten damit exakt jenen autoritären Stil, den sie ursprünglich bekämpfen wollten. Wir sind alles Kinder unserer Zeit und reproduzieren oft unsere eigenen Zwänge», erklärte Ueli Mäder. «Soyez réalistes, demandez l’impossible», habe er 1968 in Paris gelesen. «Die Frage ist doch: Was machen wir Menschen aus dem, was die Gesellschaft aus uns macht? Heute ist man eher bereit, mit Widersprüchen zu leben», behauptete der Soziologe. «Man sucht das, was verbindet. Darin sehe ich auch eine Chance.»


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote