Das unstete Leben des Herrn Wegelin

  25.08.2018 Frick

Hans Wegelin lebt seit 1959 in Frick, ist weit herumgekommen, an allem interessiert

Wer ist dieser Mann, der an Stöcken und stets behütet durchs Dorf spaziert? Die NFZ besuchte den 94-Jährigen in seiner Wohnung an der Mühlegasse.

Simone Rufli

Er sehe nicht mehr gut, sagt Hans Wegelin. «Aber ich beherrsche das Zehn-Finger-System. Ich schreibe Leserbriefe und erledige unsere Buchhaltung. Meine Frau korrigiert meine Texte.» Den Computer hat Wegelin kurz vor der Pensionierung noch kennengelernt. Vor zwei Jahren haben Wegelins ihr Haus am Kaistenberg gegen eine Wohnung an der Mühlegasse eingetauscht. Da sitzen wir nun am Esstisch und Hans Conrad Wegelin erzählt. Flüssig, schnell, wohlgeordnet, ohne Zuhilfenahme von Notizen – beeindruckend! «Mein Vater war Grenzwächter. Ich ging an fünf verschiedenen Orten zur Schule. Mich störte das überhaupt nicht. Ich mochte die Abwechslung.» Zur Welt gekommen sei er anno 1924 im Frauenspital Basel. Die Mutter stammte aus Riehen, der Vater aus Diessenhofen im Thurgau. «1924 war das Kraftwerk Eglisau an der Mündung der Glatt in den Rhein gerade vier Jahre in Betrieb und mein Vater ins nahe beim Kraftwerk gelegene Rheinsfelden im Kanton Zürich versetzt worden.» Sechs Jahre lebten Wegelins dort, dann zog die Familie nach Rafz.

Barfuss zur Schule
«Wir wohnten auf einem abgelegenen Weiler abseits des Dorfes – wunderbar!» Im Sommer legte der kleine Hans den 2,5 Kilometer langen Schulweg barfuss zurück – «Hansli durfte mir keiner sagen, das stellte ich im Alter von sechs Jahren ein für allemal klar», Wegelin lacht.

Dann wurde sein Vater erneut versetzt, die Familie – Vater, Mutter, Hans und seine drei Schwestern – zogen um nach Mammern im Kanton Thurgau. «Dort hatte ich zwei Jahre lang den besten Lehrer.» Viel habe er von ihm gelernt, der jeden Stoff so unglaublich gut vermitteln konnte. 1938 folgte der Wechsel an die Sekundarschule in Steckborn. «Kurze Zeit später wurde mein Vater erneut versetzt. Der 2. Weltkrieg brach aus und wir mussten nach Opfertshofen im Kanton Schaffhausen, direkt an die Grenze zu Deutschland.» In Thayngen besuchte er die Realschule, das Pendant zur Sek im Thurgau. Vorausschauend wie der Vater war, wollte er, als Hans’ Übertritt in eine Berufslehre bevorstand, anno 1940, in die Nähe der Stadt Schaffhausen ziehen. Wegelin hält inne, lacht: «Der Umzug war aber auf den 31. Januar festgelegt, so dass ich für die letzten zwei Monate meiner Volksschulzeit noch in eine neue Schule musste.»

Seine KV-Lehre absolvierte er in einer kleinen Farbenfabrik in Schaffhausen. 1943 wechselte er zur Schweizerischen Industrie-Gesellschaft (SIG) nach Neuhausen. «Die Arbeit dort war eine trostlose Sache.» Doch das brauchte ihn nicht zu kümmern. Bereits 1944 trat er in die Rekrutenschule ein. Es folgte die Unteroffiziersschule, das Abverdienen. «Im April 1944, wir hatten gerade Abtreten in der RS – wurde Schaffhausen bombardiert. Meine Mutter war mit meiner Schwester fünf Minuten zuvor dort noch mit dem Velo unterwegs.»

Im Monat 500 Franken Lohn
Mit dem Kriegsende 1945 war ein erneuter Ortswechsel verbunden. «Ich begann in der Ciba in Basel zu arbeiten. Meine vier Jahre ältere Schwester war schon länger Sekretärin des Personalchefs.» Nach neun Monaten wurde er nach Monthey ins Wallis versetzt, um französisch zu lernen. «Damals habe ich 325 Franken verdient im Monat. Ich wollte 500 Franken. Als ich die nicht bekam, nahm ich eine Stelle in St. Gallen an. Die bezahlten mir 500 Franken.» Doch schon am dritten Tag erhielt er ein Angebot aus Lausanne. Wegelin nahm die Herausforderung an und arbeitete fortan für die Getreidehandelsfirma André – «für 475 Franken». Bereits vor dem 2. Weltkrieg hatte die Firma André & Cie Schiffe für den Getreidetransport vor allem von Südamerika nach Europa gechartert. «Das war eine gute Stelle, ein Chef, der die Angestellten anerkannte.» Nach einem Jahr in Lausanne bot ihm Georges André einen Zweijahresvertrag in der belgischen Hafenstadt Antwerpen an. Wegelin nahm an. «Ich wäre gerne länger geblieben.»

Mittlerweile 68 Jahre verheiratet
Zurück in Lausanne, mittlerweile in Diensten der Rheinschifffahrt, lernte er seine Frau kennen. Am 15. September werden die beiden 68 Jahre verheiratet sein. «Weil wir einfach mit 650 Franken im Monat nicht über die Runden kamen, kündete ich und ging zurück zur SIG», erzählt Wegelin. Gleichzeitig suchte er weiter nach einer neuen Stelle. In Aarau fand er die bei der Futtermittelfabrik und Geflügelfarm Kunath. Man ahnt es schon. Wegelin zog bald weiter. In Roggwil (Thurgau) wurde er Geschäftsführer einer Firma, «die am Verlumpen war».

Schliesslich führte ihn der Weg nach Gipf-Oberfrick zur Futtermühle Zanovit. Wegelin entwickelte eine ungewohnte Sesshaftigkeit. 16 Jahre lang arbeitete er bei der Zanovit. Alle drei Kinder gingen in Frick zur Schule. Als die Firma in Nachlassstundung kam, ging er zu einem Lieferanten nach Oberentfelden, später verliess er die Branche und arbeitete in Lenzburg in einem Betrieb für Kochplatten-Fabrikation und Kücheneinrichtungen. Wohnen aber blieb er – bis im April 2016 – in seinem Haus in Frick. Ende 1990, mit 66 Jahren und zwei Monaten trat er in den Ruhestand. «Ich dachte anfangs, ich sei mit dem grossen Garten ausgelastet», er schmunzelt. «Nach zwei Stunden war das jeweils erledigt.» Er fing an, im Bekanntenkreis Steuererklärungen auszufüllen. In den folgenden 12 Jahren ging er Sommer wie Winter auf Hausbesuch und beriet seine wachsende Kundschaft. «Mit 78 dachte ich ans Aufhören. Mein Sohn war in seinem Job als Prokurist bei der UBS unzufrieden. Er kündete, übernahm meine Kunden und baute das Geschäft aus.» Wegelins unstetes Leben färbte auf seine Kinder ab. Die Tochter lebt seit zehn Jahren in Spanien. Ein Sohn je sechs Monate pro Jahr im Freiamt und in Malaysia. Der Jüngste, gelernter Bauer, reiste als Globetrotter durch die Welt, lebte viele Jahre in Dänemark.

Hans Conrad Wegelin hat am 5. Juli seinen 94. Geburtstag gefeiert. Als er 20 wurde, trat er der FDP bei. Als er nach Frick kam, wurde er bald Orts-Parteipräsident und blieb das acht Jahre lang. Er war auch im Bezirksvorstand. Noch immer interessiert ihn die Politik. Regelmässig schreibt er Leserbriefe. «Bald kommt unsere Tochter aus Spanien zu Besuch, dann gehen wir für mich ein neues iPhone kaufen.»


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote