Als Kaiseraugst den ersten industriellen Aufschwung erlebte

  31.05.2018 Kaiseraugst

Mario Lützelschwab erforscht die Lokalgeschichte

Mit welchen Themen musste sich der Gemeinderat von Kaiseraugst vor rund 100 Jahren herumschlagen? Mario Lützelschwab hat die handgeschriebenen Protokolle von 1897 bis 1928 gelesen und abgeschrieben, weitere folgen. Sein Urgrossvater war damals Gemeindeammann.

Valentin Zumsteg

«Mich interessiert, wie das Leben im Dorf früher tatsächlich war», erklärt Mario Lützelschwab. Der 65-jährige Kaiseraugster beschäftigt sich intensiv mit der Geschichte seiner Familie und seiner Gemeinde. Vor ein paar Jahren hat er eine umfassende Chronik über die Familie Lützelschwab verfasst, später schrieb er ein Buch über die Familie Schmid. Bei der Arbeit an der Chronik der eigenen Familie fasste er den Vorsatz, die Amtszeit seines Urgrossvaters Beda Lützelschwab genauer unter die Lupe zu nehmen. Dieser war von 1897 bis 1909 und später nochmals von 1913 bis 1933 Gemeindeammann von Kaiseraugst. Um zu erforschen, was in der Gemeinde in jenen Jahrzehnten geschah und die Bevölkerung sowie die Behörden beschäftigte, hat Mario Lützelschwab die handgeschriebenen Gemeinderats-Protokolle jener Jahre studiert, mit dem Computer erfasst und in bisher vier Bänden drucken lassen.

«Unglaublich spannend»
«Für mich ist die Lektüre unglaublich spannend», erklärt Lützelschwab, der sich diesem Projekt seit über fünf Jahren widmet. Kaiseraugst erlebte in jenen Jahren einen industriellen Aufschwung, mit dem sich der Gemeinderat auseinandersetzen musste. 1888 wurde eine Cellulosefabrik gebaut, 1898 bekam das Dorf den ersten elektrischen Strom und 1908 begann der Bau des Kraftwerks Augst-Wyhlen. «Es kamen viele fremde Menschen ins Dorf, welche in den Fabriken und auf den Baustellen nach Arbeit suchten und teilweise auch fanden. Etliche von ihnen stammten aus Osteuropa oder Italien.» Mit der Cellulosefabrik, die bis 1930 bestand, gab es immer wieder Ärger. Die Verantwortlichen der Firma entnahmen öfters unerlaubterweise Wasser ab der öffentlichen Wasserversorgung und entleerten damit das gemeindeeigene Reservoir. «Das hatte zur Folge, dass der Dorfbevölkerung zeitweise kein Wasser mehr zur Verfügung stand», schildert Lützelschwab.

Wegen des Kraftwerk-Neubaus verlor die Gemeinde ihren angestammten Badeplatz. Gemäss schriftlicher Zusage vom 27. Dezember 1906 verpflichteten sich die Elektrizitätswerke Basel, einen neuen geeigneten Badeplatz zu erstellen und die anfallenden Kosten zu übernehmen. Doch die Verhandlungen zogen sich hin. Erst im Februar 1923 wurde ein neuer Badeplatz in der Ergolzbucht für die Bevölkerung freigegeben. «Es dauerte nicht lange bis die ersten Reklamationen wegen des ‹unmoralischen und unsittlichen Badebetriebs› eintrafen. Die Gemeinde sah sich veranlasst, den Besuch nach Geschlecht und Alter zu regeln», erzählt Lützelschwab mit einem Schmunzeln.

Not und Armut
Beim Lesen der Protokolle – es sind weit über 1000 – berührten ihn vor allem die Einzelschicksale, die Erwähnung finden. «Es gab damals viele Verdingkinder. Die Armut und die Not waren gross. Wenn sich eine Frau beim Gemeinderat über ihren Mann beklagte, der den ganzen Lohn ‹versoff›, dann konnte es geschehen, dass der Familie die Kinder weggenommen wurden. Man hat sie dann im Armenerziehungsverein Rheinfelden untergebracht», berichtet Lützelschwab.

Der Gemeinderat musste sich mit vielen Detailfragen beschäftigen. «Eine Frau wurde vom Polizeidiener angezeigt, weil sie unerlaubterweise entlang der Landstrasse einen ganzen Karren voll Löwenzahn ausgestochen hatte. Sie musste sich vor dem Gemeinderat rechtfertigen und wurde mit einer Busse von zwei Franken belegt», erzählt er weiter.

Die Post beschäftigte schon damals
Hin und wieder stösst Lützelschwab auch auf Geschäfte, die heute noch aktuell zu sein scheinen: «1926 wurde die Kreispostdirektion in Aarau um eine Verlängerung der Öffnungszeiten in hiesiger Poststelle ersucht, jeweils morgens von 9.30 bis 10.30 Uhr. Dieses Gesuch wurde von der Direktion abgewiesen mit der Begründung, dass der Verkehr im Postbüro nicht gross sei und dass sich eine längere Öffnungszeit nicht rechtfertigen würde.» Solche Begründungen gibt es auch heute wieder.

Bis ins Jahr 1928 hat Lützelschwab mittlerweile alle Protokolle durchgearbeitet. Die Jahre bis 1933 liegen noch vor ihm. Diese sollen später in einem fünften und letzten Band erscheinen. Die Bücher liess er nur in einer kleinen Auflage von zehn Stück herstellen. «Einige Exemplare habe ich an Interessierte verschenkt. Selber greife ich regelmässig zu den Büchern, um Sachen nachzuschlagen.» Sein nächstes grösseres Projekt hat er bereits im Auge: «Ich werde ein Buch über den Fährbetrieb in Kaiseraugst schreiben.» Darüber findet sich in den Protokollen viel Material.


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