Unsere Weihnachtsgeschichte für Sie

  20.12.2017 Tradition, Frick, Literatur

2011. 2012. 2013. 2014. 2015. 2016. Und wir führen die Tradition weiter. Auch dieses Jahr legt die NFZ ihren Leserinnen und Lesern kurz vor Hei-

ligabend eine Weihnachtsgeschichte unters Bäumchen. «Und fliege mit mir übers Meer» – wir erzählen Ihnen diese Geschichte in zwei Teilen, heute Donnerstag und morgen Freitag. Apropos: Wenn Sie nun gerade diese Zeitung in Händen halten, sind wir gerade damit beschäftigt, die Freitagsausgabe auf Hochglanz zu polieren und sie in ein feierliches Gewand zu hüllen. Die Weihnachtsspezialausgabe von morgen ist ein Geschenk an unsere treue Leserschaft. Lassen Sie sich überraschen. (rw)


Und fliege mit mir übers Meer

Eine Weihnachtsgeschichte

Ronny Wittenwiler

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Salz! Er brauchte unbedingt noch eine Prise Salz. Das Wasser kochte.

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Angefangen hatte es ganz harmlos. Weshalb sollte nicht auch sie mal die Schlüssel suchen. Sowas liess sich doch unbekümmert weglächeln. Und ja, ihr Mann erst. Der suchte dauernd irgendetwas. Bald aber waren die Schlüssel gerade noch das kleinste Problem und dann kam dieser Tag. Es tue ihnen leid, hatten die zu ihr gesagt. Es tue ihnen aufrichtig leid, es gebe Medikamente, um den Prozess zu verlangsamen, gewiss, und Beratungsstellen, die weiterhelfen könnten, aber vor allem, sagten sie, vor allem sei es jetzt wichtig, dass der Mann ihr eine Stütze sei. Er sass daneben und drückte ihre Hand, so sehr, als wolle er ihr nicht zeigen, wie hilflos er sich fühlte, die hatten ihm gerade den Boden unter den Füssen weggezogen. Dann sagte er: «Ich bin bei dir.»

Noch am selben Tag informierten sie die Kinder. Es gäbe da dringend etwas zu bereden, nicht am Telefon.

***

«Eure Mutter», begann er. Sie hatten sich im Wohnzimmer versammelt. «Eure Mutter hat…» Dann schwieg er. Zorn baute sich auf. Ausserstande, den Satz zu beenden, spürte er eine innere Wut. Warum ausgerechnet seine Frau? Er konnte nicht wahrhaben, wollte nicht wahrhaben. Über all die Jahre war sie ihm verlässlicher Ratgeber gewesen, ein Wegweiser. Sie war sein Leuchtturm im Leben. Es schien ihm unwirklich. Sie räusperte sich. «Typisch, euer Vater. Hat er doch wieder mal vergessen, was er eigentlich sagen wollte: Nämlich, dass meine Erinnerung zunehmend entschwindet.» Sie lächelte vorsichtig. Wieder mal wollte sie die ganze Familie trösten. Es flossen Tränen.

***

Auf einen guten Tag folgten zwei schlechte. Sie beklagte sich nicht. Da war dieser Duft von frischem Heu, dem Lavendel im Garten. Die Blütenpracht der Apfelbäume hoch oben in den Wipfeln. «Erzähle mir mehr davon», sagte er. Die Augen geschlossen, zog es sie weiter, immer weiter und höher, als flöge sie übers weite Land. Sie konnte die Bilder förmlich riechen. Als würde sich in jenen Momenten der Schleier lichten, der sich schleichend über ihre Erinnerung legte. Und als wäre er ein Stern am Firmament, der ihr den Weg zeigte, nahm sie seine Hand und flog mit ihm hinaus aufs offene Meer. Es war ihr Aufbruch zu einer Reise gegen das Vergessen, Abend für Abend, und sie redeten darüber, was das Leben und die Liebe ihnen doch alles gegeben hatte. «Mit dir in diesem Moment auf unser gemeinsames Leben zu blicken», sagte sie mit dankbarer Stimme: «es ist, als würde ich dieses Leben nochmals leben.»

Und doch wusste sie, dass irgendwann ihre Erinnerung komplett verblassen wird; wie Tinte auf Papier, ohnmächtig ankämpfend gegen den Lauf der Zeit.

***

Ihm gelang es nicht, seine Verzweiflung zu verbergen. Es war ein Spätsommerabend. «Woran denkst du?», fragte sie ihn, sie sassen draussen auf der Veranda und hörten den Vögeln zu, vielleicht ein letztes Mal. «Die Frage ist nicht, woran ich denke, sondern, wovor ich mich fürchte.» Sie schwiegen lange, so, als hofften sie, der vertraute Gesang würde niemals enden. Dann legte sie ihren Kopf an seine Schultern: «Bald schon ziehen sie weiter. Brechen auf zu einer langen Reise.» Ihm war, als hätte sich von hinten eine Schlinge um seinen Hals gelegt. Mit einem tiefen Atemzug versuchte er, sich von diesem erdrückenden Gefühl zu befreien, er wurde laut. «Genau davor fürchte ich mich.» Ja natürlich! Er fürchtete dieses Ungewisse. Diese quälende Frage, wie es sein würde, wenn seine Frau schon bald weiterzöge, sich aufmachte an einen Ort ohne Erinnerung an das Jetzt und Einst. Sie aber fuhr mit leiser Stimme fort: «Die Vögel verstummen. Wir können ihnen nachtrauern. Oder darauf vertrauen, dass nichts endgültig ist.»

Auch wenn sie ahnte, dass er noch nicht verstanden hatte. In ihren Worten lag Zuversicht. Und als es ganz still wurde an diesem Abend, noch immer den Kopf an seine Schultern gelegt, den Blick zu den Sternen gerichtet, fragte sie ihn: «Erfüllst du mir einen Wunsch?»

Seine Frau schlief bereits friedlich, als er auf seinem Kopfkissen diesen Brief von ihr sah.

Fortsetzung morgen in der NFZ


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