Armut in der Schweiz?
02.08.2014 Finanzen, Unteres Fricktal, Oberes FricktalOb man es wahrhaben will oder nicht, aber Spielsucht an der Börse wie Spielsucht im Casino kann zum Ruin führen. Allerdings besteht ein gradueller Unterschied. Die ruinöse Spielsucht am Roulette-Tisch muss von Gesetzes wegen gestoppt werden, wenn die Casino-Leitung dessen Gewahr wird. Verfehlte Börsenspekulation hingegen geht erst zu Ende, wenn kein Geld mehr vorhanden ist. Statistisch haben wir es dann mit einem Fall von Armut zu tun.
Armut, eine Frage der Definition
Laut dem «Handbuch zur Armut» des Hilfswerkes Caritas ist in der Schweiz annähernd jede fünfte Person nicht in der Lage, eine unerwartete Rechnung von 2 000 Franken wie beispielsweise für den Zahnarzt zu bezahlen. Danach wären also rund 1,6 Millionen Inländer arm. Laut Bundesamt für Statistik, das sich alljährlich mit entsprechendem Zahlenmaterial an die Öffentlichkeit wendet, sind 590 000 Inländer derzeit als arm zu betrachten. Zudem ist diese Zahl gemäss gleicher Quelle seit 2007 rückläufig.
Aus dieser massiv unterschiedlichen Auslegeordnung ist der Schluss zu ziehen: Armut ist eine Frage der Definition. Eine klare Definition verwendet das Bundesamt. Danach gilt eine Einzelperson als arm, wenn das verfügbare Haushaltseinkommen nach Abzug aller obligatorischen Abzüge wie Steuern, KVG-Prämien, AHV/IV/EO usw. weniger als 2 200 Franken beträgt. Für ein Paar mit zwei Kindern liegt die Schwelle bei 4 050 Franken. Auch unter Berücksichtigung der Kaufkraftunterschiede befände man sich mit solchen Einkünften in vielen Ländern der Welt noch weit im Mittelstand. Häufig gilt andernorts nur als arm, wer wirklich erhebliche materielle Entbehrungen über sich ergehen lassen muss. Soweit könnte es in der Schweiz gar nicht kommen, denn bei uns deckt die öffentliche Hand mittels Sozialhilfe das Existenzminimum ab. Dazu gehören insbesondere auch die Ergänzungsleistungen, von denen im Kasten zu diesem Text die Rede ist.
Wer ist armutsgefährdet?
Es wäre somit ebenso falsch wie töricht, zur Armutssituation in der Schweiz extreme Kommentare abzugeben wie etwa «Keine Arbeit, kein Geld, keine gesellschaftliche Integration für weit über eine Million Menschen in der reichen Schweiz» oder «In der Schweiz leben mehr Millionäre als Sozialhilfeempfänger». Bleiben wir also sachlich auf dem Boden der Realität. Am meisten armutsgefährdet sind bei uns Leute mit mangelhafter Ausbildung, getrenntlebende Eltern mit Kindern, alte Personen nach Verbrauch ihrer Ersparnisse oder einfach wer auf Dauer mehr ausgibt als er einnimmt, zum Beispiel wie eingangs erwähnt für Börsengeschäfte oder im Casino.
Das beste Mittel gegen Armut ist eine geregelte Arbeit. Dazu braucht es keine Lohnuntergrenze, wie es das Schweizervolk jüngst klar zum Ausdruck gebracht hat. Hingegen braucht es möglichst volle Beschäftigung in einem wirtschaftlich prosperierenden Umfeld. Da spricht die Arbeitslosigkeit von 2,9 Prozent im Mai 2014 in der Schweiz gegenüber den 10,4 Prozent in der EU natürlich Bände!
BVG-Vorbezug unter EL-Verzicht?
Auf meine Rüge an den Bundesrat, künftigen Wohneigentümern zu verbieten, ihren Immobilienkauf teilweise mit vorbezogenem Pensionskassenkapital zu finanzieren, habe ich rundum nur positives Echo erhalten. Der Bundesrat hatte das Verbot damit begründet, dass wer sein BVG-Kapital zu früh verbraucht, dereinst vermehrt der Allgemeinheit zur Last falle und mit Ergänzungsleistungen (EL) gestützt werden müsse.
Grosse Empörung herrscht darüber, dass der Bundesrat die Eigenfinanzierung von Wohneigentum als Vermögensverbrauch einstuft und der «Geldverputzerei» gleichstellt. Vielmehr handelt es sich um eine sinnvolle Umdisposition des Vermögens, wovon man nachgerade auch im vorgerückten Alter profitiert. Ein Leser schlug vor, dass Leute, die BVG-Kapital vorbeziehen, sich unterschriftlich verpflichten müssten, lebenslänglich auf Ergänzungsleistungen zu verzichten. Das würde zu rechtzeitigen Nachdenken und in der Folge zur Reduktion von EL-Bezügen führen. Was ich davon halte?
Es wäre meines Erachtens eine taugliche Lösung, wenn die Schweiz allein dafür zuständig und verantwortlich sein würde. Klagt aber jemand, der auf EL verzichtet hat und dann trotzdem finanziell in Not kommt, die Schweiz später beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wegen Verweigerung von Sozialhilfe an, dann passiert sehr wahrscheinlich folgendes: Der EGMR befindet, dass das Völkerrecht vor dem Landesrecht steht – das heisst der Staat Schweiz müsse seinen Bewohnern im Bedarfsfall auch Unterstützung leisten, selbst wenn sie seinerzeit ausdrücklich darauf verzichtet hätten!! Fremde Richter entscheiden oft eben anders als der Souverän in der Schweiz.