Wenn Life Science Schnupfen kriegt …
20.11.2025 WirtschaftRund 60 Prozent der Wertschöpfung und etwas mehr als 40 Prozent aller Arbeitsplätze der Schweizer Life-Science-Industrie sind in der Nordwestschweiz angesiedelt. Grosses Wachstumspotenzial bietet das Fricktal und insbesondere auch das Sisslerfeld. Doch aktuelle Veränderungen ...
Rund 60 Prozent der Wertschöpfung und etwas mehr als 40 Prozent aller Arbeitsplätze der Schweizer Life-Science-Industrie sind in der Nordwestschweiz angesiedelt. Grosses Wachstumspotenzial bietet das Fricktal und insbesondere auch das Sisslerfeld. Doch aktuelle Veränderungen weltweit stehen wie dunkle Wolken am Horizont.
Walter Herzog
Das Fricktal hat sich in den vergangenen Jahrzehnten vom einstigen «Armenhaus» und einer Auswandererregion zu einer prosperierenden Gegend entwickelt. Massgeblich dazu beigetragen hat die florierende Pharmaindustrie, gesamtheitlich auch Life Science genannt. Die Unternehmen Roche und Novartis, und in ihrem Windschatten viele weitere, sind stark gewachsen und werfen hohe Gewinne ab. Davon profitiert die Region Nordwestschweiz überdurchschnittlich mit Investitionen, gutbezahlten Arbeitsplätzen und einer wachsenden wirtschaftlichen Nachfrage, auch im Gewerbe. Aber auch viele Fricktaler Gemeinden gehören dank den gestiegenen Steuereinnahmen der gutbezahlten Neuzuzüger und Einwohnerinnen und Einwohner zu den Gewinnern. Einzelne besonders glückliche Gemeinden werden mit hohen Unternehmenssteuereinnahmen und Quellensteuern verwöhnt, beispielsweise Kaiseraugst, Stein oder Sisseln.
Chancen und Risiken
In jüngster Zeit steigt jedoch der Druck auf die Life-Science-Industrie am Standort in der Schweiz. Zwar begrüsst die Industrie die Entscheidung der US-Behörden, die Basiszölle auf Schweizer Exportprodukte von 39 Prozent auf 15 Prozent zu senken. Problematisch bleibt jedoch die Situation weiterhin für die Pharmaindustrie: Die Situation betreffend drohender US-Pharmazölle und geforderten Preissenkungen bei den Medikamentenpreisen in den USA ist weiterhin unklar. Denn die grossen Schweizer Pharmakonzerne in Basel und in der ganzen Region Nordwestschweiz profitieren stark von den aktuell hohen Gewinnen, welche sie in Amerika erzielen.
Die Schweiz gilt als Vorreiter für die chemisch-pharmazeutische Industrie. Doch der jüngste Konkurrenzvergleich von BAK Economics zeigt: Die internationale Konkurrenz holt auf und die Schweiz gerät zunehmend unter Druck. Erstmals seit fünf Jahren muss sie ihren zweiten Platz im globalen Ranking abgeben und teilt sich nun Rang drei mit Dänemark. «Das Resultat des diesjährigen Kompetenzindex 2025 ist ein Warnsignal für die Schweiz», sagt Annette Luther, Präsidentin vom Branchenverband «scienceindustries». «Die Führungsrolle der Schweizer chemisch-pharmazeutischen Indus-trie ist nicht selbstverständlich, sondern muss immer wieder neu erkämpft werden.»
Innovation und Digitalisierung
Besonders besorgniserregend sei, dass die Schweiz bei Innovation und Digitalisierung an Boden verliere. «Es braucht jetzt eine Politik, die unsere Stärken – Innovationsgeist, Offenheit und Verlässlichkeit – stützt und nicht durch Überregulierung ausbremst», fordert Annette Luther weiter. Direktor Stephan Mumenthaler ergänzt: «Die USA und Irland ziehen davon, während Länder wie die Niederlande und das Vereinigte Königreich mit grossen Schritten aufholen. Die Schweiz bleibt zwar ein globaler Spitzenstandort, insbesondere bei Infrastruktur, Talenten und Stabilität. Aber dort, wo die Zukunft definiert wird – bei der Digitalisierung – hinken wir hinterher.»
Der Vorsprung schmilzt
Am Jahresanlass des Branchenverbands der Pharmaindustrie wurde betont, dass die Schweizer Chemieund Pharmaindustrie an einem Wendepunkt stehe. Die Kombination aus erstarktem Protektionismus, politischer Einflussnahme auf internationale Investitionen und wachsender globaler Unsicherheit machten es für die Schweiz zwingend, jetzt zu handeln. Der Verband fordert dazu eine strategisch geschärfte Standortpolitik mit einem besseren Marktzugang, forschungs- und innovationsfreundlichen Rahmenbedingungen, ein wirtschaftsfreundliches Unternehmensumfeld, die Förderung von Fachkräften und Bildung, eine wettbewerbsfähige und sichere Versorgung und Infrastruktur sowie einen konsequenten Regulierungsabbau. Das Fazit lautet denn auch: «Die Schweiz ist noch vorne mit dabei – aber der Vorsprung schmilzt. Jetzt ist der Moment, entschlossen zu handeln, damit die starke, innovative und nachhaltige Chemie, Pharma und Life-Science-Industrien auch morgen noch zur Weltspitze gehören.»
Die weltweiten Entwicklungen haben Einfluss auf die Investitionstätigkeit der Pharmabranche. Werden andere Standorte ausserhalb der Nordwestschweiz und dem Fricktal stärker bevorzugt, leidet die ganze Region darunter. Weniger Investitionen werden dann hier realisiert und weniger neue und attraktive Arbeitsplätze in der Region angeboten. Ein «Schnupfen» der regionalen Pharmaindustrie kann sehr schnell zu einer starken «Grippe» in der gesamten Region führen. Die Realisierung der ehrgeizigen Entwicklungspläne im Sisslerfeld, wo das Unternehmen Bachem aktuell in grossem Stil in die Zukunft investiert, könnte beispielsweise auf die lange Bank geschoben werden.
Das Sisslerfeld bietet insgesamt das grösste zusammenhängende und eingezonte Wirtschaftsgebiet im Kanton Aargau. Das Fricktal ist zudem der dominierende Life-Sciences-Standort innerhalb des Kantons Aargau. Hier sind acht von zehn kantonalen Life-Science-Arbeitsplätzen angesiedelt und es werden über 90 Prozent der kantonalen Life-Science-Wertschöpfung erwirtschaftet. Mit seiner hohen Wirtschaftskraft ist der Pharma-Standort Fricktal denn auch von substanzieller Bedeutung für die gesamte kantonale Wirtschaft.
Wachstum breiter abstützen
Noch sehen die Perspektiven für das Fricktal und die Region Basel vielversprechend aus. Doch die dunklen Wolken am Horizont zeigen, dass eine weiterhin so positive Entwicklung alles andere als selbstverständlich ist. Die Verantwortlichen für die regionale Entwicklung sind daher gut beraten, wenn sie in ihren Plänen neben dem Ausbau von Forschungs-, Entwicklungsund Produktionskapazitäten für die Pharmaindustrie auch andere Bereiche, beispielsweise die industrielle Produktion oder gut positionierte High-Tech-Unternehmen im Auge behalten.





