Das geht doch nicht, fand Judith Wyss zuerst. Getan hat sie es dann trotzdem. Sie macht mit vierzig nochmals eine Lehre – bei ihrem Mann.
Ronny Wittenwiler
Vor zwanzig Jahren und voller Stolz hielt sie ihn in den Händen. Ihren eigenen ...
Das geht doch nicht, fand Judith Wyss zuerst. Getan hat sie es dann trotzdem. Sie macht mit vierzig nochmals eine Lehre – bei ihrem Mann.
Ronny Wittenwiler
Vor zwanzig Jahren und voller Stolz hielt sie ihn in den Händen. Ihren eigenen Fähigkeitsausweis. Judith Wyss ist gelernte Schneiderin. Bis vor wenigen Monaten führte sie ihr eigenes Atelier und genauso erfolgreich managte sie die Familie mit ihrem Mann Marco Wyss und den gemeinsamen Kindern. Seit einigen Wochen allerdings ist da plötzlich eine komplett neue Herausforderung. Denn Judith Wyss ist jetzt die neue Lehrtochter bei Optik Meyer in Möhlin und Marco Wyss, der Ehemann, ihr Chef. «Ja, das ist für uns alle speziell», sagt sie und lacht.
Wie es dazu kam
Ganz am Anfang stand die Neugierde. «Seit ein paar Monaten mache ich die Buchhaltung im Optikergeschäft», erzählt Judith Wyss. «Stand ich dann jeweils in der Werkstatt, verstand ich kein Wort von dem, was geredet wurde. Das fand ich doof. So habe ich begonnen, Bücher über Optik zu lesen und habe meinen Mann mit Fragen gelöchert.» Und der Ehemann, Marco Wyss also, der permanent Rede und Antwort gestanden war, er sagte irgendwann einfach mal diesen einen Satz: «Weisst du was, mach doch eine Lehre als Optikerin!» Es folgte eine schlaflose Nacht.
Eine Lehre mit bald vierzig Jahren? Nein, das geht doch nicht, denkt sich Judith Wyss. Aber warum es nicht geht, darauf hat sie weder in jener schlaflosen Nacht noch am andern Tag eine Antwort. Und genau darum macht sie es dann einfach doch. An einem Freitagabend, kurz vor den Sommerferien der beiden, folgt per Mail die Bestätigung der Berufsbildungsinspektorin, es ist 23.06 Uhr. Marco Wyss lacht: «Wir haben dann mitten in der Nacht den Lehrvertrag geschrieben und unterschrieben und während unserer Sommerferien habe ich Judith für die Berufsschule angemeldet.» Noch nie habe das Ehepaar so viel über Optik gesprochen wie in diesen Sommerferien am Meer, sagen beide. Und doch ist das erst der Anfang. Judith Wyss wird nun in der Berufsschule neben jungen Mädchen sitzen, die ungefähr so alt sind wie die eigene Tochter.
Ein zweites Ja
Und so kommt es dann, dass manchmal die verrücktesten Dinge eben doch umgesetzt werden. Vielleicht auch, weil es für gewisse Dinge keine Antwort gibt, weshalb sie nicht gehen sollen. Es klingt wie ein Statement: nur Mut. Eines allerdings, das möchte Marco Wyss betont haben: Auch seine Frau bekommt die Ausbildung nicht einfach geschenkt. «Von niemandem, auch nicht von mir.» Herr und Frau Wyss, dieses Ehepaar: es traut sich. Schon wieder.