Und Pegasus spannte seine Flügel aus
22.12.2025Die Hände eben noch ums Steuerrad geklammert, nahm er all seinen Mut zusammen. Dann schloss er die Augen, liess los und streckte seine Arme in die Höhe.
Es gab keinen Anfang und kein Ende. Nur das Jetzt.
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Dem Tag hatte die dunkelste Stunde geschlagen. Dann zog er die Tür hinter sich zu. Mit leerem Blick liess er sich in seinen Sessel fallen. «Es tut mir leid», hatte er gesagt, und dann gleich nochmals: «Es tut mir unendlich leid.» An solchen Tagen hasste er seinen Beruf.
Draussen im kleinen Park vor der Klinik wartete seine Frau. Ohne ein Wort sollte sie ihn in die Arme nehmen, dann würden sie schweigend in die Nacht entschwinden.
Und im ersten Stock der Station hielten die Eltern Emmas Hand. Sie mussten sie gehen lassen. Das kleine Mädchen hatte noch so viele Träume.
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Manchmal steht alle Zeit still. Als hätte sich das Kind in uns an einen verborgenen Ort schlafen gelegt. Und nichts bleibt als die Dunkelheit.
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In ein paar Monaten sollten prächtige Gärten in ihrer Blüte stehen. Vögel von ihrer Reise zurückkehren. Doch wenn selbst in tausend Jahren ein neuer Frühling zum Leben erwachte – der Sinnlosigkeit, die im Sterben jedes Kindes liegt, würde er nichts weniger abgewinnen als seine Ohnmacht und blankes Entsetzen.
In Momenten wie diesen lag ihm das Schöne fern, und selbst die Stadt, die er so liebte, sah er mit traurigen Augen. Wo er einst am glücklichsten war, spie ein Parkhaus all die gehetzten Menschen in ihren schnellen Autos aus.
Es war Winter.
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Kinder weinen nicht vor Glück, schrieben sie unter dieses wundervolle Bild und schickten es mit all ihrer Liebe auf die Reise.
In jener Nacht hingen am Himmel Millionen von Sternen.
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Seine Frau und die Kinder schliefen bereits. Ein Gutenachtwunsch oder eine andere kleine Notiz von Herzen, manchmal auch nur ein einziges liebes Wort. Das zarte Licht, von der kleinen Lampe im Wohnzimmer ausgehend, war jeweils ihr Zeichen, er möge selbst dem längsten Tag noch einmal eine letzte Aufmerksamkeit schenken.
Doch dieses Mal, mit unbekannter Handschrift an ihn adressiert, lag ein goldener Umschlag auf dem Tisch.
Es war wie eine Offenbarung.
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Von der alten Scheune zum Wohnhaus war es bloss ein Steinwurf. Es war schon dunkel. Bei jedem seiner Schritte hörte er das Knirschen der Kieselsteine unter seinen Füssen. Für einen Moment dachte er ans Umkehren.
Und als er schliesslich vor der Tür stand und nach einem letzten Zögern anklopfte, nährte das fehlende Licht im Innern des Hauses in ihm die widersprüchliche Hoffnung, bald schon im Wagen zu sitzen und den ganzen langen Weg wieder zurück nach Hause zu fahren. «Eine Spinnerei», hätte er dann bloss zu seiner Frau sagen müssen. «Eine einzige Spinnerei.»
Direkt über ihm ging das Licht an.
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«Kann ich Ihnen helfen?»
Kein Zweifel. Er war es. Nach all den Jahren gab es nicht den geringsten Zweifel.
Verwundert und doch freundlich wiederholte er: «Ob ich Ihnen helfen kann?»
Beim Anblick des alten Mannes waren mit einem Mal all die Bilder wieder da, und erst als ihn Sekunden später die Gegenwart seine Sprache finden liess, kam aus seinem Mund ein hoffnungsvolles: «Ja, das glaube ich.»
Fortsetzung am Dienstag in der NFZ

