Und so möchte ich weiter glauben

  22.12.2022 Tradition

Ich habe Dinge gesehen, so erhaben,
als wären sie nicht von dieser Welt.

Und doch sind sie da.

***

Sie waren angekommen und bald schon würde die Sonne aufgehen. Doch dieses Mal war es anders. Als wäre etwas von dem, was diesen besonderen Menschen doch ausmachte, unten im Tal geblieben.

«Was ist los?», fragte sie ihren Vater.

***

Die beiden waren eine Seilschaft im Leben; gewiss, auch mit dem Sterben hatte das zu tun: so früh von dieser Welt sollte keine Frau und Mutter gehen müssen. Der Vater hatte Fragen, wie sie ein jeder stellt, derart schwer geprüft. Und auch wenn er darauf eine Antwort im Hier und Jetzt nie bekommen sollte: Allein die Hoffnung aber, er gab sie nie auf, auch nicht in seiner schwersten Stunde.

***

«Da hat es der alte Mann noch einmal geschafft», sagte er und lehnte sich ans Gipfelkreuz: «Da hat er es geschafft und doch nimmt er sich die Unverschämtheit heraus, sich zu beklagen. Was bin ich doch für ein törichter Kerl.» – «Beklagen, worüber?», fragte seine Tochter.


Senkrecht fast stürzte der ewige Berg in die Tiefe. Seine Flanken durchstachen die himmelblaue Oberfläche und tauchten hinab in den See, der ihnen zu Füssen lag. Gleich dahinter grüne Wiesen, sanft geschwungene Hügel. Vor ihnen, im Licht der Morgensonne, breitete sich ein Land atem berau bender Schön heit aus. Im Moment aber, als sie ihren Blick von diesem wundervollen neuen Tag abliess und ihn ansah, noch immer ans Gipfelkreuz gelehnt, bekam sie eine Ahnung.

«Ist es Traurigkeit?» Der Alte zuckte mit den Schultern. «Oder gar Wut?» Auch jetzt erhielt sie keine Antwort. Sie schwieg ebenfalls. Wind strömte über den Bergkamm und liess das karge Gras zittern.

«Ich würde es nicht Trauer nennen», sagte er dann plötzlich, seinen Blick noch immer in die Ferne gerichtet. «Und schon gar nicht Wut, auf keinen Fall. Und ohnehin: Ich weiss ja nicht einmal, ob mir das nach einem langen Leben überhaupt zusteht, mich zu beklagen. Es ist nur…»

Dann überkamen ihn die Emotionen und er sprach an diesem für ihn so grossen Ort zum ersten Mal mit seiner Tochter über die eigene Endlichkeit. Vielleicht gab es für das, was er durchmachte, kein passendes, einziges Wort. Doch allein seine Augen offenbarten, was die Seele bewegte: Dass es von so vielem, was dieser Mann doch so sehr geliebt hatte in seinem Leben, vielleicht bald nur noch ein letztes Mal geben würde.

***

Tanzen im Regen am anderen Ende der Welt. Ein Spaziergang unter dem Himmel des Südens, einmal nur. Gemeinsam hatten sie Pläne, doch an einem Sonntag ging seine Frau für immer von hier fort, er war an ihrer Seite und zu klein noch die Tochter. Ihr blieben, als sie grösser wurde, die Erzählungen des Vaters über einen Menschen voller Liebe. Vater und Tochter aber bildeten eine Seilschaft für jeden Berg, den ihnen das Leben in den Weg stellte. Für sein eigenes Kind ging er stets voran.

***

Abstieg. Ob der alte Mann noch einmal hierher würde zurückkehren können, in einem nächsten Frühling, einem nächsten Sommer, allein der Himmel wusste die Antwort. Ihm schien, als würde der Berg von Jahr zu Jahr steiler. Die Tochter ging voran, alles hat im Leben seine Zeit.

Bald schon fiel hinunter ins Tal der erste Schnee und über den See legte sich Stille.

Dann kam Heiligabend. Sie würde da sein.

Fortsetzung morgen Freitag in der NFZ


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