Einreiseverbot für einen russischen Kirchenchor
25.10.2022 LeserbriefeZum Leserbrief von Andreas Burckhardt, NFZ vom 21. Oktober
Im Namen der russischen Nation sind in den letzten Monaten viele scheussliche Dinge passiert. Vielen Menschen in der Ukraine ist unsägliches Leid geschehen. Wenn nun aber jeder russische Chor, der über Frieden singen will, pauschal als «Sprecher Putins» betitelt wird, so ist das nicht nur sachlich falsch, sondern Ausdruck einer gefährlichen Entwicklung.
In Russland leben einerseits Menschen, die der staatlichen Propaganda verfallen sind. Und andererseits solche, die eine kritische Einstellung haben, die man aber nicht um ihre Meinung fragt – in autoritären Staaten ist das so, und wer sich kritisch äussert, wandert ins Gefängnis. Diejenigen, die den Krieg wirklich wollen, stellen eine dritte Gruppe und eine kleine Minderheit dar. Bei meiner langjährigen Arbeit in Russland habe ich Menschen aller drei Kategorien kennen gelernt. Mit letzteren habe ich den Kontakt abgebrochen.
Ich kenne den erwähnten Chor nicht. Nur dass er über Frieden singen will, liefert aber nicht genügend Indizien über seine Einstellung und keine ausreichende Grundlage für eine Verweigerung einer Einladung oder eines Visums.
Wir haben es in der Schweiz geschafft, Stereotypen gegenüber Menschen anderer Hautfarbe oder anderer sexueller Orientierung abzubauen. Sollen denn nun neue Vorurteile entstehen?
Wenn alles Russische und alles, was russisch im Namen trägt, schlecht geredet wird, führt dies dazu, dass sogar diejenigen Russen, die gegenüber der Politik ihres Staates kritisch eingestellt sind, die Behauptungen der russischen Propaganda bestätigt sehen, wonach man im Westen grundsätzlich russenfeindlich eingestellt wäre. Das Schlechtreden alles Russischen liefert Wasser auf Putins Mühle und hilft ihm letztlich.
Es wird sich nun wohl wieder jemand finden, der mir Wörter in den Mund legt, die ich nicht gesagt habe. Dies war der Fall, als ich mit Zitaten ukrainischer Flüchtlinge auf die ungenügende Kommunikation zwischen Behörden und Flüchtlingen aufmerksam machen wollte – und ich danach, obwohl bloss Überbringer der Nachricht, zum Bösen gestempelt wurde.
Daher sage ich klar: Ich distanziere mich von den sogenannten Putin-Verstehern kategorisch. Gleichzeitig bin ich dagegen, dass sämtlichen Russen eine kollektive Schuld für diesen Krieg zugewiesen wird.
MICHAEL DERRER, RHEINFELDEN