Und dann gründeten sie eine Schule

  02.01.2022 Elfingen

Von der Idee bis zum Unterricht in der «Wirkstadt»

Im August wurde in Elfingen die erste Privatschule im oberen Fricktal eröffnet. Die NFZ blickt mit dem Schulleitungs-Quartett auf den erstaunlich kurzen Weg von der Idee bis zur Türöffnung der «Wirkstadt» zurück.

Simone Rufli

Dass Nicole Jehle, Nicole Käser, Corina Siegrist und Stefanie Walder sich im Februar 2020 für die Gründung einer Privatschule zusammengetan haben, verdanken sie – neben einer gemeinsamen Haltung und übereinstimmenden Werten – weitestgehend dem Zufall. Und es überrascht zu hören, dass der Tag, an dem die vier Lehrerinnen die Öffentlichkeit zum ersten Mal über ihre Pläne informierten, auch das erste gemeinsame Treffen zu viert gewesen ist. Davor hatte es zwar Gemeinsamkeiten gegeben, Stellvertretungen in der Schule zum Beispiel oder eine gemeinsame Zeit damals im Jugendtreff, auch im Skilager – doch dann verlor man sich aus den Augen – über Jahre.

Dann wurden die vier Frauen Mütter. Und mit den eigenen Kindern kehrte die Erinnerung an frühere Gedankenaustausche zurück; an die Idee von der eigenen Schule. Je zwei Frauen hatten wieder Kontakt zueinander. Und plötzlich pressierte es. Die Suche nach Gleichgesinnten begann und führte die vier eher zufällig zusammen. Sie hätten schnell gespürt, dass es als Team funktionieren könnte, das mit der Schule, erzählen sie im Gespräch mit der NFZ.

Und so kam das Projekt ins Rollen. Kaum lag es auf dem Tisch, wurde ein Infoanlass angesetzt. Es rollte weiter, nahm Fahrt auf. Eine Firma wurde gegründet, gleich darauf der Name «Wirkstadt» festgelegt. Es folgte die Gründung eines Fördervereins zur finanziellen Unterstützung von finanzschwächeren Familien. Alles entstand in kurzer Zeit. Und was kaum jemand für möglich gehalten hatte, trat ein: Im August 2021 konnten 13 Kinder zum Schulstart im «Wirkstadt»- Schulhaus in Elfingen begrüsst werden.

Mittlerweile unterrichten die vier 20 Kinder. Weitere Kinder sollen erst nach den Sportferien aufgenommen werden, damit sich das Gefüge langsam formen und mit der nötigen Ruhe entwickeln kann. Begleitet werden die Schulleiterinnen von einer Fachperson für Organisationsentwicklung. Die NFZ traf die Schulleiterinnen im Schulzimmer.

NFZ: Würden Sie sich noch einmal an so ein Projekt wagen?
Stefanie Walder:
Himmel ja! Das ist etwas vom Besten, was ich in meinem Leben bisher gemacht habe. Es ist jede Stunde wert, die wir hier arbeiten.
Nicole Käser: Wenn wir noch einmal von vorne anfangen müssten, bräuchte es wohl schon etwas Überwindung. Es war sicher unser Vorteil, dass wir nicht überlegen mussten, was wir wann machen, weil wir ganz einfach nicht wussten, was auf uns zukommt.

Eine Schule gründet man nicht alle Tage. Da muss einiges zusammenpassen.
Käser:
Das ist so und ich weiss nicht, ob das jemand allein geschafft hätte.
Nicole Jehle: Wir kamen so zügig voran, weil jede von uns ihr soziales Netz und ihre Erfahrungen als Lehrerin, ihre Ideen und Ressourcen einbrachte.
Corina Siegrist: Unsere Netze ergänzten sich von Anfang an gut und haben sich inzwischen verbunden. Das ging nur, weil wir alle eine ähnliche Haltung haben. Dazu kommt, dass wir alle vier von unserer langjährigen Erfahrung als Lehrerinnen im System der Volksschule profitieren konnten.


Vom freien Fall bis zur Schuleröffnung

Im Gespräch mit den Schulleiterinnen der «Wirkstadt»

Ihre im Sommer eröffnete Privatschule in Elfingen funktioniert ohne Noten. Unterrichtet werden die Kinder in altersdurchmischten Gruppen. Ihr Rahmen ist der kantonale Lehrplan. Innerhalb dieser Grenzen beschreiten die vier «Wirkstadt»-Frauen neue Wege.

Simone Rufli

NFZ: Sie hatten einen grossen administrativen Aufwand zu bewältigen bis zur Bewilligung des Kantons – dachten Sie wirklich nie daran, aufzugeben?
Nicole Jehle:
Wir sind alle sehr optimistisch. In der ganzen Auf bauphase haben wir uns immer am Rand des Möglichen bewegt. Immer wieder gedacht, dass das, was wir da machen, ja eigentlich gar nicht möglich ist. Doch anstatt das weiter zu hinterfragen, haben wir einfach gehandelt. Es war unglaublich eindrücklich zu erleben, was für Potential frei wird, wenn man ein so klares Ziel vor Augen hat und die Gemeinschaft spürt.
Nicole Käser: Am ersten Infoanlass hat jemand zu uns gesagt, «das ist eine tolle Idee, aber in der Zeit lässt sich das nicht realisieren». Das hat uns nicht etwa entmutigt. Es hat uns zusätzlich angespornt.
Corina Siegrist: Und immer, wenn es nötig war, wurden bei uns allen plötzlich noch mehr Zeit und Kraft frei, obwohl wir in der ganzen Zeit des Aufbaus immer noch voll berufstätig waren und auch unsere Familien zu betreuen hatten.

Nun ist es so, dass auch die Volksschule sich bewegt und Entwicklungsschritte macht. Lerncoaches betreuen Schulkinder in kleineren Einheiten individuell. Es wird klassenübergreifend und in Lernlandschaften gearbeitet. Hätten Sie sich die Mühe mit der eigenen Schule nicht sparen können?
Stefanie Walder:
Wir sehen und begrüssen diesen Wandel. Wir haben ihn auch selbst erlebt an der Volksschule. Wir möchten ihn aber schneller vollziehen, als das in der Volksschule möglich ist. Das Tempo ist für uns ein zentrales Thema. Ein weiterer Punkt ist, dass konsequent und ernsthaft selbstgesteuertes Lernen, wie wir es für unsere Kinder wollen, eine überzeugte Haltung jeder einzelnen Lehrperson voraussetzt. Es ist eine anstrengende und intensive Form des Unterrichtens. Wenn ich 20 Kinder allein betreue oder wir uns hier in der Wirkstadt um 20 Kinder zu zweit kümmern, ist das etwas anderes.
Jehle: Aus eigener Erfahrung müssen wir auch davon ausgehen, dass die neuen Strukturen an der Volksschule zum Teil in der Theorie hängenbleiben, weil sie nicht überall auf die gleiche Haltung stossen. Und das System der Volksschule ist träge. Wir mochten diese Trägheit nicht länger aushalten.
Siegrist: in unserem kleinen Team geht es schneller in die Veränderung. In der Volksschule kann der Wandel eine lange Reise werden und es ist dort auch längst nicht immer möglich, auf das einzugehen, was von den Kindern selber kommt.
Walder: Und mit eigenen Kindern stellen wir uns die Frage: Was wünsche ich mir jetzt für meine Kinder?
Käser: Wir wollen uns nicht abkapseln, wir haben auch nicht das Gefühl, dass nur wir alles richtig machen. Wir wünschen den Wandel in der Volksschule, aber wir wollen unsere Energie in einem Team einbringen, wo Veränderung schnell möglich ist.

Es gab sicher auch Schwierigkeiten und Hindernisse?
Siegrist:
Schwierig für uns als Familienfrauen war es zum Beispiel, immer wieder Zeit zu finden, um am Gesuch zu schreiben.
Jehle: Wir tappten auch oft in finanzieller Unsicherheit. Mancher Treuhänder hätte uns wohl abgeraten, wenn er nur die Zahlen gesehen hätte. Es hat sich manchmal nach freiem Fall angefühlt.
Käser: Oh ja! Das war ein echter Dämpfer für unsere Euphorie, als wir die Zahlen zum ersten Mal schwarz auf weiss gesehen haben.
Siegrist: Einen Raum finden, der zu unserem Projekt passt und gleichzeitig den Ansprüchen des Kantons genügt.

Und als das passende Schulhaus gefunden war, stand es noch längst nicht zur Verfügung.
Siegrist:
Wir mussten anfangen, ohne zu wissen, mit wie vielen Schülern wir starten können. Ins Schulhaus konnten wir erst rund einen Monat vor Schulbeginn einziehen.
Käser: Um das Gesuch einreichen zu können, mussten wir das Schulhaus schon haben. Wir konnten zu dem Zeitpunkt aber noch keine Kinder akquirieren, weil man das erst darf, wenn das Gesuch bewilligt ist.
Käser: Am Ende brauchte es an den unterschiedlichsten Stellen Leute, die uns Vertrauen entgegenbrachten, obwohl wir noch kaum etwas vorzuweisen hatten.
Walder: Ganz besonders auch von Familien, die ihre Kinder für eine Schule angemeldet haben, die wir ihnen nicht zeigen konnten. Jetzt ist das anders.
Jehle: Wir waren auch alle während des ganzen Aufbaus noch berufstätig an der Volksschule.

Die Wirkstadt ist mit 13 Schülerinnen und Schülern gestartet. Wie ist der Stand heute?
Walder:
Jetzt unterrichten wir bereits 20 Kinder.
Käser: Wir hatten rund 40 Interessensmeldungen, bevor wir das Gesuch einreichten. Erst nach und nach merkten wir, dass es für Eltern – auch für uns selber – sehr viel Mut braucht, das Kind in der Volksschule abzumelden.
Jehle: Es ist ein einschneidender und emotionaler Prozess, den wir im Vorfeld unterschätzt haben – abgesehen von den Kosten.

Ist es einfacher, wenn die Kinder gleich in der Wirkstadt starten?
Walder:
Auch dort gilt es, die Vernetzung im Dorf zu lösen. Man nimmt sie aus der Dorfgemeinschaft heraus.
Jehle: Die Angst, das Netz zu verlassen, haben wir deutlich gespürt bei den Eltern. Wir haben aber auch erlebt, dass sie sich in dem Augenblick verflüchtigt, in dem die Kinder in der Wirktstadt anfangen.

Die ersten vier Monate, gute Erfahrungen?
Siegrist:
Wer schon länger in der Volkschule war, bringt einen entsprechend grossen Rucksack mit und braucht länger, sich bei uns zurechtzufinden.
Käser: Es werden diverse Prozesse in Gang gesetzt, für die das Kind, aber auch wir viel Zeit und Energie brauchen. Was mache ich, wenn ein Druck nicht mehr da ist, mache ich mir den Druck selber? Reicht es, was ich hier tue?
Jehle: Es kann eine Überforderung sein, nicht mehr gesagt zu bekommen, was man zu tun hat. Übrigens auch für uns als Lehrpersonen. Es ist eine permanente Herausforderung, die neue Schule zu denken.
Käser: Mich haben die Denkmuster schockiert, die die Kinder mitbringen: Mathe kann ich nicht, schreiben kann ich nicht, englisch liegt mir nicht. Da sind so viele Widerstände, die es gemeinsam zu überwinden gilt.
Jehle: Zu denken gibt auch, dass bei einigen zwei Schuljahre genügten, um ihnen die Freude am Lernen zu nehmen.

Sie wollen die Kinder vor Druck schützen. Unsere Gesellschaft ist aber nicht frei von Druck.
Siegrist: Das ist so. Wir wollen trotzdem nicht einfach den Druck von oben weitergeben.
Käser: Es gibt immer mehr Familien, die ihre Kinder nicht länger durch das Schulsystem peitschen wollen; die Alternativen suchen. Es trägt auch zur Entspannung der Familiensituation bei, diese Rückmeldungen erhalten wir.
Jehle: Wir sind überzeugt, ein Kind lernt nicht besser mit Druck umzugehen, wenn man es schon früh dem Druck aussetzt. Wir glauben vielmehr, dass ein Kind gestärkt in die Gesellschaft entlassen werden muss.
Siegrist: Wir kümmern uns um das Jetzt. Was braucht das Kind jetzt, was tut ihm für seine Entwicklung jetzt gut.
Jehle: Ich muss an der Stelle auch einem Vorurteil entgegentreten. Die Wirkstadt ist nicht ein total druckfreier Raum. Es gibt bei uns kein Laisser-faire.
Käser: Wir lassen die Kinder nicht einfach machen. Wir begleiten und coachen sie. Wir erkennen ihre Vermeidungstaktiken und gehen mit den Kindern durch unbeliebte Lerngebiete. Immer mit dem Ziel, dass ihnen alle Fächer ohne Berührungsängste offenstehen.

Wird es bis in zehn Jahren eine Annäherung von Volksschule und Wirkstadt gegeben? Walder: Das hoffen und wünschen wir sehr. Es wird aber noch ein Umdenken brauchen. Nicht nur in der Schule, sondern in der ganzen Gesellschaft.


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