Für meinen kleinen Freund

  23.12.2021 Tradition

Eine Weihnachtsgeschichte

Ronny Wit tenwiler

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Es war einfach ein Gefühl.

Ein Gefühl, dass es richtig war, mit diesen Worten zu beginnen. All seine Hoffnung und all seine Liebe, die er zu geben hatte, legte er in diese Worte. Es war wie ein Gebet. Dann schickte er den Brief auf die Reise.

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Es begann harmlos. Ein leichter Schnupfen, Halsschmerzen. Die Eltern waren deswegen nicht aufs Äusserste besorgt und der Kleine freute sich vor allem auf die Dose mit den Süssigkeiten. Er solle ausnahmsweise zweimal reingreifen, sagte der Doktor und dann an die Eltern gewandt: Er sei nicht sicher. «Ist es was Schlimmes?», fragte die Mutter noch und wollte doch bloss hören, dass alles in Ordnung sei mit ihrem Kind. «Bei den Spezialisten ist es in besten Händen», sagte der Doktor aber und blickte in besorgte Gesichter. Zwei Tage später hatten sie Klarheit.

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Als würde ihr jemand das Herz aus der Brust reissen. Der Mann fuhr noch am selben Abend zum Waldrand, er stieg aus, ging einfach weiter. Am liebsten hätte er sich die Seele aus dem Leib geschrien, doch allein ihm fehlte die Kraft. Er schwieg und blickte nach oben. Der Himmel über ihm war schwarz und überall waren da die Worte seines Jungen: «Muss ich jetzt sterben?»

Natürlich stünden die Chancen nicht schlecht, hatte man den Eltern gesagt, aber was hiess das schon und warum um Himmels Willen sagte keiner: «Die Chancen stehen gut.» Siebzig Prozent, achtzig Prozent vielleicht. Wie an einen Strohhalm klammerten sie sich an jedes einzelne Prozent fest, um dann im nächsten Moment die dreissig, vielleicht zwanzig Prozent auf der falschen Seite zu verdammen. Die Eltern wollten, was selbst Spezialisten ihnen nicht geben konnten, eine Garantie. Stattdessen sagten die zuständigen Ärzte: «Wir brauchen möglichst bald einen geeigneten Spender für ihr Kind.»

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Frühmorgens in den überfüllten Strassenbahnen, am Abend in den Kauf häusern, finstere Mienen, wohin man blickte. Und dann kam der Tag, an dem ihr Kind nicht mehr zuhause sein konnte. Wie klein doch all die grossen Probleme des Alltags mit einem Male wurden. Es war wie eine Offenbarung und da erst fiel ihm auf: Ausgerechnet die, die am wenigsten hatten, begegneten ihnen am Ende eines beschwerlichen Tages mit einem Lächeln. Es waren die Menschen auf den Bänken draussen im Park. Menschen, die niemand mehr sehen wollte und wenn doch, dann hatte manch einer bloss noch Blicke für sie übrig, eisiger als die Kälte des Winters, die ihnen entgegenschlug.

Abend für Abend sassen sie dort und schauten hoch in den vierten Stock, wo in den Gängen das Licht brannte und auf der Station all die Kinder schliefen. Wer ahnte schon, dass diese Menschen hofften und bangten, dass sie beteten für all die tapferen Kinder und ihre traurigen Eltern. Wer ahnte schon ihr Mitgefühl. Gestalten in zerzauster Kleidung. Es war, als hätte die Welt ihre Namen längst vergessen.

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Es war schon spät. Müde geworden vom Tag und von alledem, was seit der Diagnose ihres Kindes auf sie niedergegangen war wie ein Sturm, schlief sie in den Armen ihres Mannes ein. Der letzte wache Gedanke dieses Tages galt seinem kleinen Sohn, der gerade um sein Leben kämpfte. Dann schloss auch er seine Augen, und der Himmel weiss, wann sie wieder erwacht wären – doch ein Anruf riss die beiden in den frühen Morgenstunden aus dem Schlaf. Es war die Klinik.

Fortsetzung an Heiligabend in der NFZ


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