Hinter dem Horizont

  24.12.2020 Tradition

«Auch Mama und Papa würden sich sehr freuen, wenn du an Heiligabend bei uns bist», sagte das Mädchen zur Grossmutter. Weihnachten ohne ihn, ein erstes Mal. Keiner hatte gesagt, dass es einfach sein würde. Auch hatte niemand behauptet, es gäbe sie nicht, diese Momente des Zweifelns. Wie sehr erinnerte sie sich doch an seine Worte. Die Sonne versank im Ozean. In den Hafen kehrten die Fischer zurück.

«Ich weiss nicht, wie ich das alles ohne dich schaffe.» Sie beobachtete ein Blatt, wie es, aufgewirbelt durch einen Windstoss, übers Wasser schwebte und sich dann auf die Wellen legte, die es davontrugen. Da war sie wieder, ihre Verzweiflung. «Es ist in Ordnung, Angst zu haben», sagte er zu seiner Frau.

Gewiss, er würde ihr die Traurigkeit über sein Sterben nicht nehmen können, fuhr er fort. Ohnehin, ein Leben ohne ein Vermissen – was für ein Leben wäre ein solches schon gewesen. Als wollte sie nie mehr loslassen, drückte sie fest seine Hand.

«Schau sie dir an», sagte der alte Mann jetzt und deutete auf die Fischer, die im Hafen ihre Netze zum Trocknen auslegten. «Morgen schon brechen sie wieder auf. Stets auf der Suche nach dem grossen Glück. Genauso ist es doch mit unserem Leben.»

Seine Frau bekam eine leise Ahnung, worauf er hinauswollte und obschon längst gebrechlich geworden, schwang in seiner Stimme etwas Hoffnungsvolles. «Selbst wenn es der letzte wäre: Das Wissen um ihre eigene Endlichkeit hält diese Männer nicht davon ab, ihre Netze für den neuen Tag vorzubereiten.» Und nach einem Moment des Schweigens, sagte er jetzt: «Schau sie dir an. Es lohnt sich, dafür zu leben, was wir lieben.»

Ein letzter Frühling. Ein letzter Sommer. Der Flug der Möwen, fallende Blätter, ein Sturm im Herbst. Wie so vieles – ein letztes Mal. Sie hatte Tränen in den Augen.

«Es ist in Ordnung, hörst du. Aber lasse die Angst niemals über deine Zuversicht siegen», bat er seine Frau, und legte seinen Kopf an ihre Schulter. «Du und ich, wir alle hier auf Erden. Wir sind wie die Tropfen dieses riesigen Ozeans, die auf den Wellen der Vergänglichkeit durch das Hier und Jetzt gleiten. Und wie für jeden einzelnen dieser Tropfen hier draussen, so kommt auch für uns irgendwann die Zeit für die grosse Reise hinter den Horizont.»

Und dann, wie zum Abschied, sah der alte Mann hinaus auf sein Meer. Ein letztes Mal.

«Auch Mama und Papa würden sich sehr freuen, wenn du an Heiligabend bei uns bist.» Ja, sagte die Grossmutter, sie werde wirklich sehr gerne da sein, und legte den Hörer auf. Das erste Weihnachten ohne ihn. Gewiss, keiner hatte gesagt, dass es einfach sein würde. Doch fühlte sie jetzt eine unendliche Dankbarkeit für all das, was ihr das Leben mit ihm gegeben hatte. Es war schon spät in der Nacht, als sich die ganze Familie nach draussen begab. «Sucht mich dort, wo ich auch im Leben meinen Platz hatte, und ihr werdet mich finden», sagte der Mann, der einst davon geträumt hatte, um die Welt segeln. Er machte sich an einem Sonntag im November auf seine letzte Reise.

Sie blickten aufs offene Meer hinaus und lauschten den Wellen. Das Mädchen hielt ihre Grossmutter an der Hand: «Du warst die Geschichte seines Lebens.» Es war Heiligabend. Und hinter dem Horizont leuchteten die Sterne.

Ronny Wittenwiler


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