Hinstehen, Verantwortung übernehmen und klar kommunizieren

  22.11.2020 Zeiningen

Erika Wunderlin war während 20 Jahren Kantonstierärztin

Erika Wunderlin ist in Zeiningen aufgewachsen. Als sie 1998 das Amt der Kantonstierärztin in Aarau antrat, zog sie nach Küttigen. Vor zwei Jahren ging sie in Pension und ist heute wieder vermehrt in Zeiningen anzutreffen.

Janine Tschopp

«Ja, es geht mir gut», sagt Erika Wunderlin. Die 63-Jährige nimmt es heute ein bisschen ruhiger als vor ihrer Pension, aber langweilig wird es ihr nicht. Reisen, lesen und Ahnenforschung sind Hobbys der vielseitig interessierten Frau. Obschon Erika Wunderlin seit 22 Jahren in Küttigen wohnhaft ist, trifft man sie regelmässig in Zeiningen an. Hier ist sie zusammen mit zwei Schwestern als Tochter einer Wegenstetterin und eines «Urzeiningers» aufgewachsen. Ihr Vater ist vor zwei Jahren gestorben. Seither unterstützt sie ihre Mutter regelmässig im Haushalt.

Interessiert am Leben ihrer Vorfahren
«Ich war immer eine gute Geschichtsschülerin», erzählt Erika Wunderlin. Und Geschichte hat sie bis heute nicht losgelassen. So befasst sie sich seit ihrer Pension intensiv mit Ahnenforschung. Es interessiert sie, wie die Menschen im Fricktal früher lebten. Vor kurzem verfasste sie einen Artikel für das «Zeiniger Schäsli», die Chronik ihre Heimatdorfs. Darin beschreibt sie, wie einer ihrer Vorfahren im Krisenjahr 1816 nicht mehr wusste, womit er seine Frau und seine vier kleinen Kinder ernähren sollte. Im darauffolgenden Jahr wanderte er zusammen mit der ganzen Familie nach Amerika aus, um dort ein neues Leben anzufangen.

Geschichte oder Medizin?
Nachdem Erika Wunderlin in Zeiningen die Primarschule, in Möhlin die Bezirksschule und in Basel das Gymnasium besucht hatte, studierte sie zwei Semester Deutsch und Publizistik in Berlin. «Mit einem mittelhochdeutschen Abschluss», betont sie mit einem Augenzwinkern. «Bald wurde klar, dass ich auf ein naturwissenschaftliches Fach umsatteln wollte», beschreibt sie. Warum kam das Geschichtsstudium nicht in Frage? «Mit Deutsch und Geschichte konnte ich mich auch weiterhin beschäftigen; autodidaktisch.» An der Veterinärmedizin gefiel ihr das Umfassende. «Vom Vogel bis zur Kuh», beschreibt sie. «Die Liebe zum Land» habe sie dazu bewogen, Veterinärmedizin zu studieren. «Bis 1970 führte mein Grossvater hier in Zeiningen einen kleinen Bauernbetrieb», erzählt Wunderlin.

«Mit vollem Einsatz» studierte sie während fünf Jahren Veterinärmedizin an der Universität Zürich. Danach liess sie sich, unter anderem in Lausanne, in Pathologie weiterbilden. «Das war hochinteressant. Pathologie ist die Krone der Medizin.» Ein Stipendium des Nationalfonds ermöglichte ihr, während zwei Jahren bei einem Forschungsprojekt in Australien mitzuwirken. «Es ging um Parasitenbekämpfung bei Schafen.» Zurück in der Schweiz war sie teils in der Forschung (Parasitologie) in Zürich und teils als Assistentin eines Landtierarztes im Toggenburg tätig. Das Duale («hochspezialisiert in der Forschung sowie Klauenpflege und Geburtshilfe in der Praxis») gefiel ihr sehr gut. Mit einem grossen Rucksack an Aus- und Weiterbildung, erarbeitetem Wissen und Fähigkeiten trat Erika Wunderlin am 1. November 1998 das Amt der Aargauer Kantonstierärztin an.

Sie liebte das Ausserordentliche
Tierseuchen, Fleischhygiene und Tierschutz waren drei grosse Themen, mit welchen sich Erika Wunderlin während ihrer Zeit als Kantonstierärztin auseinandersetzte. An vieles erinnert sie sich noch sehr gut. «2001 war ein ‹Wahnsinnsjahr›.» Es war das Jahr, wo die stark ansteckende Maul- und Klauenseuche in England ausbrach. Zudem war BSE in aller Munde, und es wurde ein Tiermehlverbot für alle Nutztiere erlassen. «Da haben wir Tag und Nacht gearbeitet», erinnert sich Wunderlin. Sie leitete ein Team von 22 Personen. Zwölf arbeiteten im Amt und zehn waren zum Beispiel als Bezirkstierärzte oder Fleischkontrolleure auswärts tätig.

Bei Seuchen wie Maul- und Klauenseuche, BSE und Vogelgrippe, die vier Jahre später folgte, war eine ihrer grossen Aufgaben, Konzepte zu erarbeiten, mit welchen man den Seuchen entgegentreten konnte. Kommunikation sei, besonders in Krisenzeichen, das A und O. «Was beschlossen ist, muss schnell, klar und mit einer Stimme durchgesetzt werden.» Sie erinnert sich an die Vogelgrippe, als im Februar 2005 entschieden wurde, alle Hühner landesweit im Stall einzusperren. «Der Bundesrat hat diesen Entscheid am Freitag kommuniziert. So war klar, dass wir übers Wochenende auf dem Amt waren, um für die Leute erreichbar zu sein.» Insbesondere während einer Krise sei es wichtig, dass jemand die Verantwortung übernehme und hinstehe. «Das schafft Vertrauen.»

Hinstehen musste sie auch, als in Laufenburg acht Kühe unnötig getötet wurden. «Im Schlachthof in Zürich wurde das Gehirn einer Laufenburger Kuh mit einer BSE-Kuh verwechselt.» Als sie diesen fatalen Fehler erfahren hatte, fuhr sie sofort zum betroffenen Bauern und informierte ihn persönlich. «Er war einerseits erleichtert, dass er kein BSE auf dem Hof hatte. Trotzdem konnten wir die acht Kühe nicht wieder lebendig machen.» Aber auch bei diesem Fall wurde klar: «Offene und gute Kommunikation ist sehr wichtig.»

Vor zwei Jahren ging Erika Wunderlin in ihre wohlverdiente Pension. «Es war eine spannende Zeit. Aber nach 20 Jahren, in welchen ich immer zu 150 Prozent eingespannt war, freute ich mich darauf, wieder ein bisschen mehr Zeit zu haben.»

Mit dem Coronavirus spielt sich derzeit auf der Welt eine ähnliche Situation ab, wie sie sie immer wieder in der Veterinärmedizin erlebte. Es waren die Krisenzeiten, die sie liebte. Es galt anzupacken, hinzustehen und Verantwortung zu übernehmen. Und wäre Erika Wunderlin Human- und nicht Veterinärmedizinerin, so wäre für sie vielleicht jetzt der Moment gekommen, nochmals ins Berufsleben zurückzukehren. Wer weiss?


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