Rheinfelden medical

  11.01.2019 Gesundheit

Verluste seelisch verarbeiten – eine Herausforderung

Dr. med. Hanspeter Flury, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Chefarzt und Klinikdirektor, Klinik Schützen Rheinfelden

Verlusterlebnisse gehören zum Leben: Todesfälle oder schwere Krankheit nahestehender Personen, Trennungen, Kündigung der Arbeitsstelle, Schwinden eigener zentraler Lebensperspektiven mit dem Älterwerden oder bei Krankheit. Wie kann man sie bewältigen? Wie kann es danach weitergehen?

Für die Entwicklung nach Verlusterlebnissen lässt sich ein typischer Verlauf beschreiben: Je plötzlicher und dramatischer Betroffene einen Verlust erleiden, desto schwerer können sie diesen anfänglich wahrhaben. Sie sind existentiell erschüttert, verzweifelt, sehnen sich nach dem Verlorenen, fühlen sich oft auch enttäuscht und betrogen. Vorübergehend können Schlafstörungen, innere Unruhe, Unkonzentriertheit und Appetitmangel auftreten. Nach und nach wird die Tatsache des Verlusts klar und muss und kann als unabwendbar akzeptiert werden. Trauer tritt in den Vordergrund, die schmerzhafte Erkenntnis, etwas Wichtiges verloren zu haben, das im eigenen Leben, ja in der Welt unwiederbringlich fehlen wird. Zunehmend treten dann Gefühle einer inneren Verbindung mit dem Verlorenen, Dankbarkeit für das gemeinsam Erlebte sowie Offenheit für Neues im Hier und Jetzt in den Vordergrund. Dieser idealtypische Ablauf zeigt: Einen Verlust psychisch zu verarbeiten, ist für das Weiterleben und für eine Neuorientierung im Hier und Jetzt und in der Zukunft sowie längerfristig für die seelische Gesundheit und Entwicklung wichtig. Jeder individuelle Abschieds-, Trauer- und Neuorientierungs-Prozesse verläuft jedoch unterschiedlich, je nach Person, Beziehungshintergrund, Umfeld und Kultur. Unsere westliche Gesellschaft gibt dafür nur wenig Zeit; sie erwartet rasches Weiterfunktionieren, sogar nach dem Tod nahe stehender Bezugspersonen.

Trauerprozesse an sich sind also keineswegs krankhaft. Sie werden unterstützt durch eine verständnisvolle Umgebung, mitfühlende und seelsorgende Mitmenschen, lebendige Rituale, aber auch genügend Einbindung ins Leben – und dies mit genügend Respekt, Raum und Zeit.

Es gibt nach Verlusterlebnissen aber auch krankhafte Entwicklungen, in denen die geschilderte Entwicklung blockiert bleibt. Eine Form ist pathologische Trauer; sie kann sich in anhaltendem sozialem Rückzug, in einer Hemmung des eigenen Lebens, in diffusen Schmerzen ohne körperliche Ursache oder in «kleineren» Blockaden und Schwierigkeiten, den Alltag neu zu gestalten, äussern, beispielsweise indem nach einem Todesfall über Monate der Esstisch unverändert gedeckt wird oder Kleider nicht wegräumt werden. Nicht bewältigte Abschieds- und Neuorientierungsprozesse können auch in eine Depression übergehen, mit Symptomen wie anhaltenden Schlafstörungen, innerer Unruhe, Antriebslosigkeit, Gedankenkreisen, Konzentrationsstörungen, Gereiztheit, Sinn- und Perspektivlosigkeit und Selbstmordgedanken.

Pathologische Trauer und Depressionen erfordern ärztliche bzw. psychiatrisch-psychologisch-psychotherapeutische Behandlungen, ambulant, in schweren Fällen stationär, um die schweren Zeiten durchzustehen, Symptome zu behandeln und den blockierten Abschieds-, Trauer- und Neuorientierungsprozess wieder aufzunehmen. Damit das Weiterleben für Betroffene möglich und längerfristig wieder lebenswert wird.


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