Jahresende 1917: Jetzt wurden Nahrungsmittel und Kohle wirklich knapp

  15.01.2018 Unteres Fricktal, Oberes Fricktal

Essay zum Fricktaler Projekt Kriegsnachrichten (was erfuhr die lokale Bevölkerung vor 100 Jahren)

Von Andreas Rohner

Zum Jahreswechsel beginnt die Sonne wieder, kurz nach der Sonnenwende, sich Tag für Tag mehr über den Horizont zu erheben. In den Gassen von Rheinfelden funkelt – währenddem ich diese Zeilen schreibe – noch die Weihnachtsbeleuchtung, es ist hell im Städtchen. Das Körpergewicht wird in diesen Tagen bei den wenigsten Bewohnern leichter geworden zu sein, die Rheinfelder Stuben sind warm. Ich bin dankbar darüber. Vor mir, am Bildschirm, die alten Zeitungen aus Rheinfelden, die anlässlich des Projektes «Kriegsnachrichten.ch» vor vier Jahren online gestellt wurden. Ich sitze also gemütlich in meinem Stuhl und lese die Botschaft zum Jahreswechsel, welche die Volksstimme aus dem Fricktal am 29. Dezember 1917 veröffentlichte, also vor 100 Jahren:

«Wir kommen von Sonnenwende her. Zum vierten Mal, seit der Geissel menschlichen Blutwahnsinns die Erde beherrscht, schickt sich die Allernährerin und Allerhalterin am Firmament an, sich wieder unseren Breiten zuzuwenden. Insbrünstiger denn je heben wir unsere Augen zu ihrer erwärmenden, leuchtenden, erschaffenden, verklärenden, Glück verheissenden Macht, da uns rings Nacht umgibt, Nacht im buchstäblichen Sinne.»

Gehen wir in Gedanken zurück ins 1917, nach Rheinfelden. Kein Handy, kein Internet, kein Fernseher, kein Radio, kein privates Auto, keine Zentralheizung aber immerhin die ‹Volkstimme aus dem Fricktal› oder die ‹Neue Rheinfelder Zeitung› in der Hand. Es ist ein kalter Tag. -16.2°C, aber die Sonne hatte sich nach dem gestrigen Schneefall gezeigt. [NFZ 1917, Nr. 155/Seite 3] Sie lesen die Zeitung im einzig geheizten Raum der Wohnung ihrer Familie vor. Ein Kerzenlicht zur Beleuchtung muss genügen. Für einen Stromanschluss, wie es der Nachbar nebenan bereits hat, reichte der Lohn bisher noch nicht.

Der Ofen, welcher eine spärliche Wärme abgibt und die Familie zusammenrücken lässt, wird mit Kohle geheizt. Sie erinnern sich an den Kriegswinter 1916. Vorausschauend benutzten sie damals die Kohle sehr sparsam. 2000 kg Kohle wurden ihnen damals zugeteilt, aber mit Sparen konnten sie 400 kg auf Reserve legen. Und nun, in diesem Winter 1917? In der letzten Zeitungsausgabe der NRZ vom 26. 12. 1917 erfahren Sie, dass die Kohlezuteilung nur noch die Hälfte des letztjährigen Volumens betragen wird, also 1000 kg, und weil sie damals so sparsam heizten, werden heute die 400 kg aufgesparte Kohle davon abgezogen. Ausgeliefert werden also heuer 600 kg.

Prosit Neujahr! Welche Stimmung haben Sie? Was wir heute zum Jahreswechsel von 1917 lesen, lässt mich meine Stube heute behaglicher erscheinen, denn im Artikel ‹zum Jahreswechsel› steht weiter:

«...die Gassen sind dunkler, die Häuser lichtärmer geworden, selbst die Lokomotiven haben zwei ihrer leuchtenden Augen eingebüsst. Nacht, bildlich gesprochen: Tiefe Nacht unsäglichen Leidens und Kummers, Hassens und Lügens umspinnt tausen- Entsetzens, die uns letztes Jahr umgaben.» – «...wieder sind 12 Monate voll Tod und Verwüstung über Europa gegangen...» Unter diesen Voraussetzung, wie, liebe Leserin, lieber Leser, würden Sie ins neue Jahr starten? Natürlich, Nochmals mit Hoffnung auf Frieden! Das war schon 1916 so und im 1917 war es noch nötiger, denn jetzt wurden die Ressourcen wirklich knapp. Was heisst knapp?

In einem Artikel der NRZ vom 26.12.1917 steht: «..abhin dürfen gesunde Kartoffeln mit einem Durchmesser von mehr als 2.5 cm ohne ausdrückliche Ermächtigung... nur zu menschlicher Nahrung verwendet werden... Zuwiderhandlung werden mit Busse bis Fr. 10 000.– oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestrafft.»

Oder in einem anderen Artikel vom 22. Dezember 1917: «Eine neue Hamsterei: Ein umfangreicher Aufkauf von weissen Böhnli zu Preisen von Fr. 2.40 bis 2.80 per Kilo wird gegenwärtig auf dem Lande betrieben. Sie sollen den Konditoreien zugeführt werden die daraus brotmarkenfreie Patisserien herstellen. Als ob dies für den Lebensunterhalt nötig wäre!»

Gab es Zeichen der Hoffnung für den Weltfrieden? Ja, eigentlich schon. Der Zar war vor zwei Monaten abgesetzt worden, Russland war kriegsmüde und die ehemaligen Feinde begegneten sich gemäss Zeitung respektvoll. Keine Reputationen, keine Gebietsannexionen. In der VSF am 29. 12. 1917 steht: «Aus den Waffenstillstandsverhandlungen im Osten sind über Weihnachten Friedensverhandlungen geworden...» – «... es ist kein Schwertergeklirr darin, obwohl die militärische Lage für Deutschland und seine Verbündeten wahrhaftig nicht schlecht steht, es ist ein versöhnlicher Geist, der den Frieden mit ehrlichem Willen und aufrichtiger Achtung des gegnerischen Volkes schaffen will.»

Doch wie im vergangenen Jahr wollten die Westmächte keinen Frieden. Die Menschen hier schon.

Wie Anfangs schon geschrieben, es gab kein Handy, kein Internet, kein Fernseher und kein Radio, aber zwei Zeitungen und beide Zeitungen waren sich vor 100 Jahren einig: Gehen Sie in den nächsten vier Tagen ins Lichtspielhaus! Jawohl, sie lesen Richtig, ins Lichtspielhaus wie ein Kino dazumal hiess. Dieses befand sich in Rheinfelden gegenüber vom Hotel Engel in der Brotlaube. ‹Die Waffen nieder› hiess der gezeigte Film und war während seiner Spielzeit in Basel, Abend für Abend, ausverkauft. «Das berühmte Meisterwerk von Berta von Suttner, das aktuelle Drama der Gegenwart, wo das Sehnen der Völker nach Frieden strebt. Dieses Bild zeigt wie kein zweites die Wirkungen des Krieges..» so wurde der Film angepriesen. Mehrere Artikel in den Zeitungen wiesen immer wieder auf den Film*) hin. Berta von Suttner schrieb den Roman 15 Jahre vor Kriegsbeginn. Sie war aktive, hoch angesehene Friedensaktivisten und die erste Frau, welche den (Friedens-)Nobelpreis 1905 erhielt. Gut einen Monat vor Kriegsausbruch starb Berta von Suttner und musste die bevorstehenden Gräuel zum Glück nicht mehr erleben.

Vor diesem 1. Weltkrieg gab es eine weltweit, grosse Friedensbewegung. Auch während den Kriegshandlungen gab es diesbezüglich grosse Aktivitäten. In Frankreich meuterten tausende von Soldaten, über 500 wurden deswegen zum Tode verurteil, 49 Urteile wurden vollstreckt. In den Gräben von Frankreich entstand ein Liedertext, welcher in Frankreich bis 1974 verboten wurde. Es hiess ‹chanson de craonne› und lässt sich auf YouTube finden. Ich sitze in meiner warmen Stube. Die Weihnachtsbeleuchtung scheint mit hunderten von Lampen taghell ins Zimmer. Draussen ist es nur 3°C kalt. Die Zentralheizung läuft zuverlässig. Trotzdem habe ich ein leichtes Frösteln, denn überall auf der Welt, und zunehmend auch in Europa, werden Stimmen laut, die Trennen statt Verbinden. Irgendwie, so scheint mir, wird es wieder dunkler.

*) Eine Dänische Version sehen sie auf www.dfi.dk/faktaomfilm/film/">http://www.dfi.dk/faktaomfilm/film/ da/14189.aspx?id=14189


Nachrichten aus kriegerischer Zeit

Das Fricktaler Projekt «Kriegsnachrichten» macht die Originalausgaben der «Volksstimme aus dem Frickthal» und der «Neuen Rheinfelder Zeitung» aus den Jahren 1914 bis 1918 im Internet für jedermann zugänglich (die NFZ berichtete). Zudem erscheint viermal jährlich ein Essay, basierend auf der Berichterstattung des jeweiligen Quartals, in welchem der Autor das Kriegsgeschehen thematisiert und unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet.

Andreas Rohner, Autor des hier publizierten Beitrages, ist Webpublisher und Leiter des Projektes «Kriegsnachrichten». Er wohnt in Rheinfelden. (nfz)


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