Abenteuer Liebe

  24.01.2018 Literatur

Lydias Tage sind lang und anstrengend: Sie führt in Rheinfelden eine Physiotherapiepraxis und hilft ihrer Mutter auf dem Reiterhof oberhalb von Mumpf. Dort lernt sie den attraktiven Assistenzarzt Bernd kennen. Zuerst findet sie ihn schrecklich arrogant. Doch mit der Zeit geniesst sie seine Nähe. Bis plötzlich ein mysteriöser Mann auftaucht.

Kaum hat die letzte Patientin die Türe hinter sich geschlossen, stösst Lydia einen tiefen Seufzer aus: «Das war’s für heute, ich bin kaputt!» «Ach ja?», meint Jessica. «Heute hattest du nur sechzehn Patienten, nicht wie üblich siebzehn!» «Ich bin trotzdem kaputt. Wie viele sind es morgen?» Jessica schaut in den Computer und sagt: «Volles Programm. Du siebzehn, ich siebzehn.» «So muss es sein. Wir sind ja schliesslich …» «… zum Arbeiten hier», vollendet Jessica den Satz. «Machst du hier fertig? Ich sollte bereits auf dem Reiterhof sein.» «Nein, musst du nicht», sagt Jessica. «Deine Mutter hat angerufen. Der Neue verspätet sich.»

Lydia zieht sich um, bindet ihr blondes Haar zusammen und verstaut es unter dem Velohelm. Sie verabschiedet sich von ihrer Angestellten und deren Hund Miso, der auf seiner Pfoten-Decke unter der Theke liegt, und radelt mit dem E-Bike von der Rheinfelder Altstadt in Richtung Mumpf. Kurz vor dem Dorfeingang biegt sie beim Kreisel rechts ab. Die letzten 500 Meter geht es bergauf. Trotz dem elektrischen Hilfsantrieb an ihrem Rad muss Lydia zünftig in die Pedale treten.
Plötzlich hört sie Motorengeräusch. Sie schaut nach hinten und sieht einen roten Sportwagen auf sich zu brausen. Lydia fährt ins Feld hinaus. Der Wagen rauscht an ihr vorbei.
«Spinner!», ruft Lydia dem Flitzer hinterher.
Als sie bei der «Fricktaler Ranch» ankommt, sieht sie das rote Auto direkt vor dem Eingang zum Stall. Der Porsche hat ein deutsches Kennzeichen, das mit MS anfängt. Lydia wundert sich, denn die Buchstaben MS deuten nicht darauf hin, dass der Besitzer des Wagens aus dem südbadischen Raum auf der anderen Seite des Rheins stammt. Lydia geht ins Haus und schlüpft in ihre Reitstiefel. Als sie in den Stall kommt, sieht sie ihre Mutter Therese und den Stallburschen Karol im Gespräch mit einem grossgewachsenen Mann. «Lydia, gut dass du da bist!», ruft Therese und geht Lydia entgegen. Sie küsst ihre Tochter und flüstert ihr ins Ohr. «Das ist Bernd Hüffer, der Interessent für Sweet-Carolina. Reitest du mit ihm aus?» «Der soll erst mal seine Karre anständig parken», murrt Lydia. «Lieber Herr Hüffer, darf ich vorstellen: meine Tochter Lydia», säuselt Therese. «Freut mich» , sagt der gross gewachsene Mann mit den schwarzen Haaren, markanten Augenbrauen und den grossen braunen Augen. Er streckt Lydia die Hand entgegen. Lydia lässt ihn stehen und geht direkt in Richtung Sweet-Carolinas Box: «Wenn Sie weiter so Autofahren», sagt Lydia laut, «können Sie die Reitstunden vergessen.» Bernd geht Lydia nach. «Wieso meinen Sie?» «Weil Sie so ihre Reitlehrerin zu Tode fahren.» «Oh, Sie waren …» «Ja, das war ich. Und der Parkplatz ist …» «… auf der anderen Seite. Das hat mir ihr Stallbursche schon gesagt.»

«Karol. Er heisst Karol. Und ich rate Ihnen, das zu tun, was er sagt.» Dass Bernd gut reiten kann, hat Lydia schon nach wenigen Minuten erkannt. Reitstunden möchte er deshalb nehmen, um die Gegend und die Reiterwege kennenzulernen und seine Fähigkeiten zu verbessern. Er habe in seiner Jugend viel geritten, schliesslich komme er aus einer Pferdegegend. «Ach ja, aus MS?» «Sie meinen das Kennzeichen an meinem Wagen? Ja, MS steht für Münster in Westfalen. Dort haben wir viele Pferde. Und von dort kommen auch viele international erfolgreiche Reiter. Während dem Medizinstudium hatte ich leider zu wenig Zeit, um auszureiten. Aber jetzt würde ich gerne wieder damit anfangen.» Grossmaul, denkt Lydia. Und dass du Arzt bist, interessiert mich nicht. Sie sagt aber nichts, und so reiten die beiden schweigend zurück und versorgen ihre Pferde. «War nett, Sie kennen zu lernen», sagt Bernd beim Abschied. «Eigentlich duzen wir uns hier», meint Lydia schnippisch. «Wir sind eben nicht so eine noble und international erfolgreiche Reitschule, wie du es von zu Hause gewohnt bist.» «Entschuldige, das war nicht so gemeint. Ich wollte nur sagen, dass ich mich mit Pferden ein bisschen auskenne.» «Ja, ja, und dass du Arzt bist.» «Nein, also …», stottert Bernd verlegen. «Vielen Dank für den Ausritt. Ich hoffe, du wirst meine Lehrerin. Und Sweet-Carolina gefällt mir gut. Ich glaube, wir verstehen uns.» «Wir geben dir Bescheid, ob du Sweet-Carolina reiten kannst. Und fahr langsam den Berg hinunter.» «Ja. Entschuldige, ich war in Eile.» «Man kann sich und andere zu Tode hetzen. Das solltest du als Arzt eigentlich wissen.»

«Wow, ein toller Mann, dein neuer Reitschüler», sagt Jessica am nächsten Tag in der kurzen Mittagspause.

«28 Jahre, Assistenzarzt im Spital Rheinfelden, gutaussehend. Soll ich dir das Foto herunterladen?» «Danke, ich verzichte. Er ist ein Raser, arrogant und …» Lydia zögert. «Was und? Ein Deutscher? Aber er sieht gut aus!» «Er ist Münsterländer.» «Oh, du weisst schon, woher er kommt? Du hast also geflirtet!» «Vergiss es. Aber ja, er sieht gut aus.» «Du kannst Miso mal ausleihen. Für einen Spaziergang mit Bernd.» Der schwarze Labrador wedelt kurz, macht aber keine Anstalten, sich von seiner Decke zu erheben. «Jessi, man kann sich auch beim Reiten näherkommen.» «Auch Händchenhalten?» Jessica zwinkert Lydia zu. «Schluss jetzt!» Therese ist froh, dass Lydia keine fachlichen Einwände gegen Bernd vorbringen kann. Dass der junge Arzt per sofort für Sweet-Carolinas Unterhalt aufkommt, ist für ihr Budget eine Entlastung. Seit Jahren kämpft Therese mit finanziellen Sorgen. Und mit ihrer Gesundheit. Seit einem Reitunfall kann sie keinen Unterricht mehr geben. Ohne Lydias Hilfe hätte sie die Ranch längst verkaufen müssen. Auch die Stallarbeit macht ihr zu schaffen. Und sie hat ein schlechtes Gewissen gegenüber Karol, der die schwere Arbeit alleine machen muss, aber niemals murrt und meckert.
Manchmal hilft auch noch Stefan auf der Ranch. Er ist pensionierter Förster und ein Jugendfreund von Lydias Mutter. Lydia hofft immer noch, dass aus dieser Beziehung irgendwann mal was Ernsteres wird.
Doch sie weiss, dass die Chancen dafür schlecht stehen: Lydia kann sich nicht erinnern, dass ihre Mutter jemals einen Mann weiter als bis in die Küche gelassen hat. Auch über ihren Vater, den sie nie kennengelernt hat, schweigt die Mama sich aus. Es sei eine flüchtige Bekanntschaft gewesen, sagt sie immer. Er sei ausgewandert und dann irgendwo verstorben.
In den ersten Tagen des noch jungen Jahres wüteten die Sturmtiefs Burglind, Evi und Friederike im Fricktal. Karol und Stefan müssen danach das Dach des Stalls reparieren. Therese versorgt unter grossen Schmerzen die Tiere alleine. Und Lydia hetzt noch öfters von ihrer Physiotherapiepraxis und der Ranch hin und her. Sie vertröstet Bernd mehrmals. Doch sie muss anerkennen, dass er fast jeden Tag zu Sweet-Carolina kommt und sie bewegt.
Als sich alles wieder normalisiert und ab und zu auch die Sonne scheint, reitet sie mit ihm aus. Die beiden versuchen wegen den Sturmschäden die Wälder zu meiden, denn viele Bäume sind umgefallen oder geknickt, unzählige Stämme stehen unter Spannung und können bersten.
Trotz dieser Gefahr fühlt sich Lydia entspannt und sicher und kann die Ausritte geniessen. Sie muss sich eingestehen, dass dies auch an Bernd liegt …

Als sie eines Abends von einem solchen Ausritt, auf dem sie über Gott und die Welt geredet und vor allem viel von sich selbst erzählt haben, zurück zur Ranch traben, sehen sie von weitem einen grossen, dunklen Wagen auf dem Reiterhof stehen. Lydia stoppt ihr Pferd und sagt: «Was ist denn das? Noch so ein Protz?» «Bitte?» «Einen Protz haben wir jetzt ja schon auf der Ranch», frotzelt Lydia und schaut Bernd mit leicht zusammengekniffenen Augen an. Dann reitet sie schnell davon. «Na, warte!», ruft Bernd und gibt Sweet-Carolina ebenfalls die Sporen.

Bei der Ranch angekommen, übergibt Lydia ihr Pferd Karol und rennt zum Haus. «Lass doch, Lydia», ruft Bernd, «deine Mutter hat vielleicht etwas zu besprechen.» «Na und? Wir haben keine Geheimnisse.» «Aber du solltest …» Lydia hört nicht auf ihn. «Mama», ruft sie, als sie das Haus betritt und zur Küche geht. Doch ihre Mutter ist nicht wie üblich, wenn sie Besuch hat oder einen Kunden empfängt, in der Küche. Sondern in der Stube. Sie hört die leise, sonore Stimme eines Mannes, kann aber kein Wort verstehen.

Sie linst durch den Spalt der alten, ausgeleierten Türe. Sie erkennt von hinten einen Mann mit Hut. Darunter lugen weisse Haare hervor. Der Mann trägt einen Mantel, der bis zu den Stiefeln reicht.


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