«Etwas Nervosität gehört dazu»

  08.01.2018 Politik

Der Möhliner Bernhard Scholl wird heute Grossratspräsident

Für ihn ist es ein grosser Tag, ein besonderes 2018 steht ihm bevor: Der Freisinnige Bernhard Scholl (66) leitet in diesem Jahr die Geschicke im Kantonsparlament.

Ronny Wittenwiler

«Sie können nicht überall der Hengst sein», sagt Bernhard Scholl im grossen Interview mit der NFZ. Was er damit meint: Als Parlamentarier einen Namen macht sich, wer sich auf seine Kernkompetenzen fokussiere. «Wer zu jedem Thema ein Postulat schreibt, wird nicht ernst genommen.» In den Bereichen Energie und Umwelt etwa sieht sich der mit einem naturwissenschaftlichen Bildungshintergrund ausgestattete Scholl befähigt, ein ernsthaftes Wort mitreden zu können. Oder im Bereich Volkswirtschaft und Finanzen. Und das tut er tatsächlich: mitreden. Scholl ist Politiker durch und durch, einer, der sich nicht bloss wählen lässt, sondern auch Verantwortung übernimmt. 2004 erstmals Platz genommen im Kantonsparlament, amtete er auch schon als Fraktionspräsident, nahm Einsatz in diversen Kommissionen. Doch gehört auch eine bittere Nicht-Wiederwahl zu den Stationen seiner Laufbahn. Nun aber folgt für den verheirateten Vater von zwei erwachsenen Töchtern fraglos ein Höhepunkt seiner Karriere. Das Parlament wählt Bernhard Scholl zum Grossratspräsidenten für das Jahr 2018, heute Abend ist eine grosse Feier in Möhlin angesetzt (18 Uhr, Fuchsrain). Scholl ist ein Wissensdurstiger auch abseits der Politik. Lesen ist eine grosse Leidenschaft von ihm, von der Fachliteratur in Astrophysik bis hin zu Geschichtsbüchern. Mittlerweile pensioniert, hat er viel von der Welt gesehen, sowohl beruflich als Chemiker, im Auftrag eines grossen Pharmakonzerns, als auch privat auf Reisen mit seiner Familie. Südamerika ausgenommen, hat er seinen Fuss auf jeden Kontinent der Erde gesetzt. Jetzt, in diesem besonderen Jahr, heisst es für den Vollblut-Milizpolitiker aber auch: «Aargau bewegt.» Was es konkret damit auf sich hat, erklärt er im Interview mit der NFZ. Darin hat er auch verraten: «Ein bisschen Nervosität gehört dazu.» Und er meint damit, dass nun viele Augen, vor allem die der politisch Interessierten, während eines ganzen Jahres auf seine Person gerichtet sind. Auf ihn, den frischgebackenen Grossratspräsidenten Bernhard Scholl, Möhlin.


«Wir sind oft zu kompliziert»

Klartext mit Scholl: Der neu gewählte Grossratspräsident im Gespräch

Wenn auch inoffiziell, so gilt der Präsident des Grossen Rats als höchster Aargauer. Diese Ehre wird dem Möhliner Bernhard Scholl zuteil. Die NFZ hat mit ihm gesprochen – über seine Wahl, die Erwartungen und darüber, was andere Parteien besser machen.

Ronny Wittenwiler

NFZ: Bernhard Scholl, wie gross sind Sie?
Bernhard Scholl:
178 Zentimeter.

Was für ein Format braucht es als höchster Aargauer?
Eine Grundvoraussetzung ist politische Erfahrung. Eine solche holt sich, wer sich in Themen einarbeitet, sich mit ihnen auseinandersetzt und sie begleitet, manchmal bis zur Volksabstimmung. In meiner Tätigkeit als Fraktionspräsident sammelte ich viel Erfahrung.

Was bedeutet Ihnen die Wahl zum Grossratspräsidenten?
Das Parlament zu führen ist eine Ehre. Doch Würde bedeutet Bürde. Das Amt erfordert Koordination zwischen Parlament, Regierung und Justiz.

Ist die Wahl auch Genugtuung?
Parlamentarische Arbeit macht man in erster Linie aus Freude, etwas zu bewegen.

Ich frage das, weil Sie im Herbst 2012 die Wiederwahl in den Grossen Rat verpassten.
Das war hart. Sowas erlebt man nicht gerne. Dass die FDP nicht drei Sitze holen würde, war aber absehbar. Und Gemeindeammänner werden nun mal öffentlich stärker wahrgenommen vom Volk. (Anmerkung der Redaktion: Die beiden Sitze für die FDP holten der damalige Steiner Gemeindeammann Hansueli Bühler und – als neu Kandidierender – Franco Mazzi, Stadtammann von Rheinfelden.)

Wegen des Rücktritts von Hansueli Bühler sassen Sie 2014 bereits wieder im Grossen Rat.
Dass ich nachrutschen werde, war absehbar. Dass es so schnell geht, habe ich nicht erwartet. Im März 2013 der Abschied, im Dezember desselben Jahres dann der Anruf von Bühler.

Niederlagen müsse man einstecken können, sagten Sie nach Ihrer Nichtwiederwahl.
Niederlagen gehören zum Leben. Diese wurde einfach öffentlich wahrgenommen. Niederlagen im Beruf sind härter. Dort geht es um Familien und Existenzen. Das ist dramatischer. Eine Wahlniederlage ist einfach ärgerlich, weil man sich für etwas eingesetzt hat. Gehört aber zur Politik.

Ihr Präsidialjahr steht unter dem Motto «Aargau bewegt». Zufall oder bewusste Analogie zu Ihrem Wohnort?
Das Motto ist eine Anlehnung an den Slogan «Möhlin bewegt». Aber nicht nur. Die letzten vier Jahre im Aargau waren geprägt von Abbau. Ich möchte wieder die Kurve kriegen, damit wir uns auf andere Dinge fokussieren können, als bloss auf Sparübungen, die fraglos nötig sind.

Wie wollen Sie die Kurve kriegen?
Wir müssen die dynamischen Kosten in den Griff bekommen. Vor allem in den Bereichen Gesundheit und Soziales. Solange wir nicht darauf reagieren, sind wir zu jährlichen Sparübungen in anderen Bereichen gezwungen. Mit Blick auf die Geschäftsplanung müssen wir jene Themen schneller angehen, auf deren Kosten wir direkten Einfluss haben. Ein Beispiel ist die Spitalfinanzierung. Hier wünschte ich Druck vom Parlament. Dieses kann mit einem entsprechenden Vorstoss verlangen, schneller aktiv zu werden. Natürlich bleibt ein anderes Problem: 90 Prozent der Gesundheitskosten sind getrieben vom Bund. Hier muss sich der Aargau beim Bund direkt einbringen, da führt der Weg über die Gesundheitsdirektorin oder über die National- und Ständeräte.

Wo sehen Sie weiteren Bewegungsbedarf?
Bei der Regulierung. Die systematische Gesetzessammlung des Bundes ist heute auf rund 80 000 Seiten angewachsen. Jährlich kommen rund 5500 Seiten dazu. Tendenz steigend. Auch auf Ebene Kanton und Gemeinde.

Sie wünschen einen Bürokratieabbau.
Richtig. Wir gehen zu sehr ins Detail mit jedem Gesetz, ohne dabei die effektive Umsetzbarkeit zu hinterfragen. Wir müssen smarter regulieren.

Wovor haben Sie Respekt als Grossratspräsident?
Dem Amt nicht Genüge zu tun.

Wann wäre das der Fall?
Bei Verfahrensfehlern zum Beispiel. Auch wenn solche eigentlich nicht passieren sollten – die Abläufe sind äusserst komplex.

Sind Sie nervös?
Etwas Nervosität gehört dazu, um die Sache ernst genug zu nehmen. Bei mir ist das jedenfalls so.

Die Amtsperiode im Grossen Rat dauert bis 2020. Ihre letzte?
Ich weiss es nicht. Massgebend sind verschiedene Parameter. Die Gesundheit etwa. Vom Alter her könnte ich sagen: Es reicht. Auf der anderen Seite ergab eine Studie, dass AHV-Bezüger im Grossen Rat nicht korrekt vertreten sind. Direkt nach den Wahlen waren gerade einmal zwei Parlamentarier über 65: Mein Bruder und ich (lacht). Bis zum Ende der Amtsperiode werden es rund zehn sein.

Sie könnten stattdessen für den Gemeinderat kandidieren.
Das stand in der Vergangenheit öfters zur Diskussion, ich wurde ein paarmal angefragt. Doch so etwas gehört an den Beginn einer politischen Karriere.

In einem Interview mit der NFZ vor vier Jahren sagten Sie, das Amt würde Sie reizen.
Während meiner Erwerbstätigkeit war ich oft im Ausland, ein Mandat als Gemeinderat wäre nicht möglich gewesen. Doch in der Tat: Reizvoll wäre dieses Amt gewesen.

Weil man als Gemeinderat mehr bewegen kann, als einer von 140 Grossräten?
Das hängt davon ab, wie ein Grossrat seine Verantwortung wahrnimmt. Als Hinterbänkler erreicht man gar nichts. Ich war zweieinhalb Jahre Fraktions-Chef der FDP. Wer sich einbringt, kann durchaus etwas bewirken.

Warum sind Sie in der FDP?
Ich war stets an Politik interessiert, wuchs im Umfeld einer bürgerlichen Familie auf. Mein Grossvater war Mitglied der EVP, sehr bürgerlich ausgerichtet. Nach dem Studium in Zürich und Fribourg wieder zurück im Aargau, fand ich meine politischen Überzeugungen bei den Liberalen. Ich war schon immer ein Gegner von zu viel Reglementierung. 1988 kam ich aus beruflichen Gründen nach Möhlin und trat Ende 1989 der FDP Ortspartei bei. Vier Jahre später war ich Bezirksparteipräsident.

Was macht die SVP besser als die FDP?
Sie verkauft sich besser. Ihre Politik hat etwas Holzschnittartiges. Wir sehen Probleme und diskutieren diese gleich bis ins Detail. Wir sind oft zu kompliziert.

Sie auch?
Das müssen Sie mir sagen. Ich habe gelernt: Wer es nicht schafft, einen Sachverhalt kurz zusammenzufassen, hat ihn selber nicht verstanden.

Was kann die FDP von der SP abschauen?
Vielleicht den Bodenkontakt. Wir müssen die Leute besser abholen, nicht nur vor den Wahlen.

Macht Ihnen Politik eigentlich Spass?
Ja. Weil sich viel bewirken lässt. Doch nicht ohne Vorleistung. Eine intensive Auseinandersetzung ausgewählter Themenbereiche ist nötig, um sich überhaupt einen Namen zu schaffen. Wer zu jedem Thema ein Postulat schreibt, wird nicht ernst genommen. Sie können nicht überall der Hengst sein.

Der Ton in der Politik ist rauer geworden.
Ist er nicht. Ich habe kürzlich ein Buch gelesen über die Entstehung des Parlamentarismus. Schon damals fuhr man sich gegenseitig an den Karren. Der Umgangston ist also ein immerwährendes Ärgernis. Ich wünschte mir Argumente und mehr Respekt. Wenn SP-Parteipräsident Christian Levrat den neuen Bundesrat Ignazio Cassis als Praktikanten bezeichnet, dann ist das vielleicht für gewisse Medien interessant. Doch es bringt nichts.

Schreckt der Umgangston die Menschen davon ab, sich der Politik zu widmen?
Kann sein. Wie gesagt, ich bin gerne in der Politik. Doch sieht man sich persönlichen Bedrohungen konfrontiert, geht das zu weit. Sowas passiert.

Auch bei Ihnen?
Ich erhielt einmal einen Anruf von einem Unbekannten, der mir mitteilte, er habe einen Baseballschläger. Und dieser sei für mich und meine Familie reserviert.

Worum ging es?
Bei solchen Vorkommnissen geht es immer um Themen, in denen der Hass nicht weit ist. Es ging um den Asylbereich.

Wie sind Sie damit umgegangen?
Ich beschloss, diese Aussage nicht ernst zu nehmen. Mir sind Kollegen bekannt, die nach Drohungen mit der Politik aufhörten.

Politiker haben einen schlechten Ruf.
Das stimmt und ist gleichzeitig das eigentliche Problem: die Politiker gibt es doch gar nicht. Mich stört, dass es immer heisst, die Politiker. In ihrer Summe sind sie sehr heterogen. Manche Personen sagen schnell einmal, ihr Politiker habt beschlossen – gleichzeitig sind diese Personen über Details und Zusammenhänge nicht informiert.

Was ist zu tun, dass sich die Menschen wieder vermehrt für Politik interessieren?
In meinem Präsidialjahr möchte ich die Politik des Grossen Rats den Leuten näherbringen, Zusammenhänge aufzeigen – und so auch Vertrauen schaffen. Der Kontakt zur Bevölkerung, zu Gemeinden, Verbänden und Vereinen ist mir wichtig.


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