Vom Westen nichts Neues

  13.08.2022 Politik

Gastbeitrag zur Entwicklung in Europa, Osteuropa, der Ukraine und der Freiheit (Teil 4 von 5)

Mit dem Widerstand der Ukraine hat Putin nicht gerechnet, doch auf unsere Ignoranz konnte er zählen. Eine persönliche Rückschau auf Osteuropas beschwerlichen Weg zur Freiheit. Als in Libyen 2011 der Bürgerkrieg ausbrach, war ich bei einem meiner Freunde in Kalifornien zu Besuch. Otto hatte den Fernseher laufen als ich kam, mich angeblickt und gesagt: «Wir müssen etwas tun.» Mit «wir» meinte er sein Land. Dieses «wir müssen» habe ich immer wieder gehört in den USA, nicht das «man sollte», das man anderswo gewohnt ist: Beim Protest der «Grünen Bewegung» in Teheran 2009 gegen den Wahlbetrug, bei den Demonstrationen im Arabischen Frühling 2011 auf dem Tahrir-Platz in Kairo, beim Tiananmen-Massaker 1989 in Peking, als die protestierenden Studenten vis-à-vis dem Mao-Porträt über dem Eingang zur Verbotenen Stadt die «Göttin der Demokratie» aufgestellt hatten, inspiriert von der New Yorker Freiheitsstatue. Es waren die Amerikaner, die mit der Bombardierung von Serbien den versuchten Genozid an den bosnischen Muslimen im Kosovo gestoppt haben. Kein europäischer Staatsmann, sondern Bill Clinton wurde in Pristina mit einer Statue geehrt. Nun sind es wieder sie, die mit dem Präsidenten Joe Biden als Ordnungsmacht amtieren; die «indispensable nation», wie Madeleine Albright sagte, Clintons Aussenministerin, die 2022 Putin traf und berichtete, der Mann sei «entschlossen, die auseinandergebrochene Sowjetunion zu alter Grösse zurückzuführen». Wie die Osteuropäer, haben auch die Amerikaner realisiert, dass der Truppenaufmarsch Russlands an der Grenze zur Ukraine keine Drohkulisse, sondern der Auftakt zum Krieg war. Es ist Amerika, das die Brandherde in Europa löscht, das mit Raketen zündelnde Nordkorea observiert, das von China bedrohte Taiwan und das von Antisemiten umzirkelte Israel schützt.

Immer wieder habe ich mit Freunden und Bekannten gestritten über die Führungsrolle der USA und die der Nato, die sie beschuldigten, Russland betrogen zu haben mit der Versicherung, das Bündnis der Verteidigungsgemeinschaft nicht nach Osten zu erweitern. Mit der Öffnung der Archive der Regierungen von Helmut Kohl, George Bush und Bill Clinton, den publizierten privaten Aufzeichnungen und Briefen der aussenpolitischen Akteure wie Hans-Dietrich Genscher, Eduard Schewardnadse, James Baker und Michail Gorbatschow ist geklärt, dass die Sowjetunion 1990 nicht wie behauptet vom Westen über den Tisch gezogen wurde. Nicht die Nato hat missioniert, sondern die Polen, die Balten und die Ukrainer haben den Beitritt zum Militärbündnis gewollt, für das der Angriff auf eines seiner Mitglieder ein Angriff auf alle ist.

VIII: Cool KGB
Wie absurd und beschämend die noch heute verbreitete Verharmlosung der kommunistischen Diktaturen und ihrer Nachfahren ist, war ein Thema, über das ich mich in Washington 2003 während des Irakkriegs mit Anne Applebaum unterhielt. Mitglied der Chefredaktion der «Washington Post», zeigte sie mir deren Grossraumbüro, das noch genau so aussah wie im Film «All the President’s Men» von 1976 über Watergate, worin Robert Redford und Dustin Hoffman das Journalistenteam spielen, das Präsident Richard Nixon – «Tricky Dick» – zu Fall bringt. Applebaum hatte eben «Gulag. A History» veröffentlicht, die erste Gesamtdarstellung der sowjetischen Arbeits- und Konzentrationslager. Sie erzählte, wie verwundert sie war, als sie in Prag über die Karlsbrücke ging, wo ihre Landsleute entzückt kauften, was die Souvenirhändler feilboten – Anstecknadeln mit Hammer und Sichel, dem Porträt von Lenin und sonstige Devotionalien des Sowjetkommunismus. Lachend hätten sie sich T-Shirts übergestreift mit dem Emblem des russischen Geheimdienstes KGB. Niemandem von ihnen, sagte Anne, wäre es in den Sinn gekommen, sich mit dem Bildnis von Hitler oder dem Hakenkreuz zu schmücken. In Berlin, wo ich öfters bin, ist es nicht anders. Embleme der Sowjetunion und von Rotchina gelten als cool; Diktaturen, die einen Leichenberg aufgehäuft haben, der den von Hitlerdeutschland bei weitem überragt. KGB-Bars und -Bistros gibt es zuhauf, und Mützen und Anzüge im Stil von Mao Zedong sind ein Renner nicht nur in der Bundesrepublik. Sich zu kleiden wie einer der grössten Massenmörder der Weltgeschichte, der sich laut seinem Leibarzt Li Zhisui jede Nacht Bauernmädchen kommen liess, um sie zu entjungfern und deren Vaginalsekret als Verjüngungsmittel zu konsumieren, löst keinen Alarm politischer Korrektoren aus.

IX: Kleine Fische
Weshalb haben so viele im Westen so wenig Verständnis dafür, was es bedeutet, unfrei zu sein? Den Verlust von Hab und Gut, von Leib und Leben kann man nachfühlen, die verbreitete Armut weckt Mitleid, doch Empathie für Menschen, die in Unfreiheit leben, ist rar. Was Freiheit ist, weiss nur, wer im Gefängnis ist, ob im Strafvollzug oder in einer Diktatur; in Ländern ohne eine unabhängige Justiz, ohne freie Wahl und Abwahl der Volksvertreter, ohne Reise-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, wo man gegen die Regierung demonstrieren darf und dabei von der Polizei geschützt und nicht verprügelt wird.

Friedrich Dürrenmatt, der grosse Nachkriegsschriftsteller, der die moralischen Dilemmata der Deutschen früher thematisiert hat als diese selber; der Dramatiker und geniale Denker, der in seinen Stücken, Essays und Erzählungen dem Menschen in seinen Widersprüchen den Spiegel vorhält – selbst er hat, als der spätere Staatspräsident der Tschechoslowakei Vaclav Havel zu Besuch war, dem ehemaligen Gefängnisinsassen erklären wollen, weshalb auch die Schweiz ein Gefängnis sei. Seine Laudatio auf den mit dem Gottlieb-Duttweiler-Preis 1990 für seine Zivilcourage geehrten Dissidenten blendet zwar nicht aus, dass in dessen Land unter sowjetischer Herrschaft Regimegegner in Konzentrationslager gesteckt, gefoltert und hingerichtet wurden. Wir Schweizer, sagte Dürrenmatt, hätten uns jedoch freiwillig in ein Gefängnis geflüchtet. Er spielte dabei auf den Fichenskandal an, der 1989 platzte und enthüllte, dass der Staat zahlreiche Bürger, Pazifisten, Feministinnen, Umweltschützer, in Jugendbewegungen Engagierte, Exponenten der Linken sowie Mitglieder der kommunistischen Partei der Arbeit bespitzelt und seit 1900 rund 900 000 Dossiers angelegt hat; auch über Ausläder, vor allem jene aus Italien.

Der «Schnüfelstaat Schweiz», der auch die Bügerlichen empörte, setzte eine Kommission ein zur Untersuchung der Affäre, worauf Betroffene ihre Fichen anfordern und einsehen konnten. In meiner Fiche waren so wichtige Informationen vermerkt, wie dass ich eine Party kurz vor Mitternacht verlassen hätte, auf der Vespa mit einer Sozia, deren Identität nicht habe festgestellt werden können. In der ausserparlamentarischen Linken, zu der ich gehörte, waren nicht wenige frustriert, wenn über sie keine Fiche angelegt worden war, während andere, deren Fiche besonders dick war, ihren Stolz kaum verbergen konnten. Kein Ruhmesblatt der Schweizer Geschichte, hat dieser Skandal jedoch auch gezeigt, dass der Rechtsstaat Schweiz funktioniert. Wird die Schweiz als Gefängnis bezeichnet, wäre alles ein Gefängnis; unser Planet Erde, die Galaxie, in der sie ist, das Universum überhaupt. Wenn aber alles ein Gefängnis ist, ist nichts ein Gefängnis, weil der Begriff keinen Sinn ergibt.

Es gehört zu den Aufgaben von Intellektuellen, ihr Land zu kritisieren, auf Fehler und Schwächen hinzuweisen, damit es sich nicht in Selbstgefälligkeit suhlt. Merkwürdigerweise tun das manche, ob links oder rechts, nur um den Preis der Verharmlosung oder gar Idealisierung der Gegner ihrer Heimat; Staaten, in denen die Menschenrechte nicht gelten. Für Noam Chomsky, den Amerikaner, der keine Gelegenheit auslässt, sein Land zu geisseln, ist der Westen schuld am Ukrainekrieg, habe Putin doch seit dreissig Jahren vergeblich auf die «Sicherheitsbedenken Russlands» hingewiesen. Ins gleiche Horn stossen Phyllis Bennis, die Kämpferin gegen den amerikanischen Imperialismus,und Naomi Klein, die einflussreiche Aktivistin gegen den Kapitalismus und die Globalisierung. Dass die Ukraine souverän ist wie ihr Land, dass deren Volk zum Westen gehören will wie das ihre, zählen für diese Kritikerinnen nicht.

Seit über hundert Jahren hat kein Staat mit Ausnahme von Hitlerdeutschland Russland angegriffen oder die Absicht dazu gehabt. Umgekehrt jedoch hat Osteuropa über Jahrhunderte die russische Gewalt zu spüren bekommen, hatte sein eigenes Schicksal nicht bestimmen können, war auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs und konnte sich erst befreien, als dieser fiel. Dass westliche Intellektuelle die Sünden des Westens anprangern, den Kolonialismus, Rassismus und die Ausbeutung der Dritten Welt, ist eine Tugend der Auf klärung. Begnügt man sich damit, gerät jedoch ins Vergessen, dass man nicht nur von Opfern, sondern auch von Tätern umgeben ist; ob das nun islamistische Terroristen, russische Sturmtruppen oder totalitäre Regime sind, die die Bombe in die Hand bekommen könnten. Nachdem Helmut Kohl als eingef leischter Europäer die Ostler ernst nahm, haben die Regierungen von Gerhard Schröder und Angela Merkel auf Putins Russland gesetzt, unter dem Motto einer «privilegierten Partnerschaft». Sie haben alle Warnungen aus Polen, der Ukraine und anderen Oststaaten in den Wind geschlagen, sich weder von den Kriegen Russlands in Tschetschenien, Georgien und Syrien noch vom Raub der Krim von ihrem Kurs abbringen lassen. Auch nicht, als die Gazprom im Januar 2006 Georgien den Gashahn zudrehte, im kältesten Winter seit zehn Jahren. Hätten sie auf die Kritik der USA und der Grünen im eigenen Land gehört, wären die Ostseepipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 nicht gebaut worden; hätte sie die Anbindung der Ukraine an die EU und die Nato nach dem Raub der Krim befördert, wären wir heute wohl nicht in der Misere, in der nun die ganze Welt ist.

Die westliche Wirtschaft hat davon profitiert und dafür gesorgt, dass sich nichts ändert. Oligarchen, die hofiert, kriminelle Machenschaften, die ignoriert, Korruption, die toleriert wurde – sie waren der Zement, der das Luftschloss der Russophilie zusammenhielt.

«Wie andere auch» habe er sich geirrt, sagte nonchalant Frank-Walter Steinmeier, der amtierende deutsche Bundespräsident. Ein Freund des russischen Aussenministers Sergei Lawrow, hatte er früh Russland zu seinem Schwerpunkt gemacht, war mit Putin ungezählte Male am selben Tisch gesessen, hatte auf Wandel durch Handel gesetzt und die Moral auf seiner Seite geglaubt – was etwas merkwürdig ist für einen Mann, der die Terroristin Gudrun Ensslin eine «grosse Frau der Weltgeschichte» nannte.

Was die Ukraine spezifisch betrifft, war es ein Amerikaner, der Historiker Timothy Snyder, der die Massenmorde und die Vernichtungspolitik von Nazideutschland und Stalins Russland erforscht und die Landstriche von Polen, Weissrussland, dem Baltikum und der Ukraine ins Bild gerückt hat: «Bloodlands», sein 2010 erschienenes Buch, sollte Pflichtlektüre sein für Intellektuelle jedweder Art; Fachleute, Amtsträger und Politiker, die über den Tellerrand ihres Landes hinaussehen müssen, um kompetent argumentieren und handeln zu können. Es ist nicht zuletzt die Ignoranz der westlichen Elite, die Putin ermöglicht hat, seinen lang gehegten Plan zu verwirklichen. In seinem 1940 in Grossbritannien erschienenen Buch «Germany. Jekyll and Hyde» hatte Sebastian Haffner das Naziregime, die Figur Hitlers und die Gesellschaft der Deutschen so brillant analysiert, dass der britische Premier Winston Churchill es zur Pflichtlektüre für die Minister seines Kriegskabinetts erklärte.

(Fortsetzung morgen Freitag in der NFZ)


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