Notrecht: Regierungsrat und Parlament sind sich nicht einig

  07.03.2024 Aargau

Bericht aus dem Grossen Rat

Nebst diversen Vorstössen hat der Grosse Rat vier gewichtige und zum Teil komplexe Themen diskutiert.

Zwei neue Mittelschulstandorte im aargauischen Mittelland
Auf Antrag des Regierungsrats hat der Grossen Rat in 1. Lesung beschlossen, die beiden Gemeinden Lenzburg und Windisch im Schulgesetz als neue Mittelschu lstandor te au fzu neh men. Die neuen Standorte sind notwendig, weil die Kapazitäten der Mittelschulen ausgeschöpft sind. Im Rat wurden die prognostizierten Daten (Anzahl Schüler, Maturitätsquote etc.) und eine gestaffelte Realisierung intensiv diskutiert. Die finanziellen Auswirkungen sind je nach Prognose enorm.

Höhere Entschädigung für Kulturland im Enteignungsfall
Der Bund hat im Enteignungsrecht auf Antrag der Bauernverbandspräsidenten eine dreifache Entschädigung beschlossen und damit das Prinzip der vollen Entschädigung verletzt. Es ist fraglich, ob dies verfassungskonform ist. Trotzdem hat eine Mehrheit des aargauischen Parlamentes in 1. Beratung nun auch hierzulande eine dreifache Entschädigung beschlossen.

Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege abgelehnt
Salopp ausgedrückt regelt das Gesetz die Beziehung zwischen Bürger und Staat. Hinter dem sperrigen Titel verbirgt sich ein Gesetz, das seit 14 Jahren in Kraft ist und überarbeitet werden muss. Die fortschreitende Digitalisierung der Verwaltungs- und Verwaltungsjustizverfahren einerseits und verschiedene politische Vorstösse zum Thema andererseits zeigen die Notwendigkeit dazu auf. So verlangt ein überwiesener Vorstoss, dass nach Volksentscheiden nur noch zwei Beschwerdeinstanzen möglich sind. Aber der Grosse Rat war sich uneins, ob das Gesetz (Zitat Grüne: Gemischtwarenladen) überhaupt beraten werden soll. Insbesondere der Teil, der die Digitalisierung betrifft, muss nachgebessert werden. Zudem ist auf Ebene Bund die elektronische Kommunikation bei der Justiz in Bearbeitung. Der Grosse Rat hat mit grosser Mehrheit Nichteintreten beschlossen und das Gesetz gar nicht behandelt.

Beim Notrecht sind sich Regierungsrat und Parlament nicht einig
Zu Beginn der Corona-Pandemie stand 2020 unser Leben (auch das politische) komplett still. Der Regierungsrat versuchte – gestützt auf die Kantonsverfassung § 91 Absatz 4 – mit Sonderverordnungen, die Situation zu regeln. Einerseits enthält dieser Absatz den Notfall-Begriff, andererseits die Verordnungskompetenz des Regierungsrats für zwei Jahre. Bei Kreditanträgen hat der Regierungsrat die Kommission KAPF miteinbezogen. Rechtsgrundlage ist § 17 Absatz 1 GAF. Es gibt also zwei Rechtsgrundlagen: einerseits die Kantonsverfassung für die dringenden Verordnungen, andererseits das GAF für dringende Kreditbeschlüsse – mehr gibt es nicht. Der Grosse Rat hat keine weiteren Möglichkeiten der Einf lussnahme in solchen Situationen.

Eine Motion der FDP, eingereicht am 12. Mai 2020, wurde vom Grossen Rat vor vier Jahren oppositionslos als Postulat überwiesen mit folgendem Text: «Der Regierungsrat wird gebeten, dem Grossen Rat eine Revision des kantonalen Notrechts vorzulegen, die einerseits eine breitere Definition der Notstandslagen vorsieht und anderseits die rechtzeitige Mitwirkung des Parlaments sicherstellt.»

Der Regierungsrat sah in seiner Antwort keinen Handlungsbedarf. Alle Fraktionen des Parlaments sehen das einstimmig (!) anders. Eine Subkommission der KAPF soll nun nach Lösungen suchen und eine parlamentarische Initiative ausarbeiten.


KOMMENTAR

Der Regierungsrat muss beim Notrecht nachbessern!

Seit Beginn der Corona-Pandemie 2020 wird Notrecht durch die Exekutiven eingesetzt, um sofortige Massnahmen zu erwirken. So ordnete der Regierungsrat in seiner Sonderverordnung 1 vom 1. April 2020 zur Begegnung von Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sowie sozialen Notständen die Videoüberwachung des öffentlichen Raums an, ohne vorgängig den Grossen Rat zu konsultieren. Er hat zudem per Notrecht Massnahmen erlassen, welche die Aargauer Wirtschaft bei der Bewältigung der Auswirkungen der Corona-Krise unterstützen soll. Es ging darum, den Verlust von Arbeitsplätzen zu verhindern. Der Bundesrat hat per Notrecht ein fossiles Kraftwerk in Birr (AG) für den Notfall in Betrieb nehmen lassen. Dazu muss er einige Gesetze und Verordnungen über Bord werfen, um die sich seit Jahren abzeichnende Stromlücke zu stopfen. Das Bundesverwaltungsgericht hat ihn jetzt zurückgepfiffen.

Eine Revision des kantonalen Notrechts ist dringend nötig, um einerseits eine breitere Definition der Notstandslagen gesetzlich zu regeln und anderseits die rechtzeitige Mitwirkung des Parlaments sicherzustellen.

Möglichkeiten zur umgehenden Mitwirkung des Parlaments sind dringliche Gesetze, Dekrete oder parlamentarische Notverordnungen, wie sie im Bund vorgesehen sind. Denkbar sind auch Kombinationslösungen. Zu nutzen sind auch die elektronischen Mittel für Kommissions- und Parlamentsbeschlüsse. Es ist unverständlich, dass der Regierungsrat keinen Handlungsbedarf sieht.

GROSSRAT BERNHARD SCHOLL, FDP, MÖHLIN


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