Leben in einem Kriegsland

  27.02.2024 Kaisten

Vor eineinhalb Jahren ist eine Kaisterin in die Ukraine ausgewandert

Am 24. Februar 2022 griff Russland die Ukraine an. Zu jenem Zeitpunkt hatte Caro Kleissen alles vorbereitet, um im März in die Ukraine zu reisen. Der Krieg verzögerte die Abreise um einige Monate. Seit August 2022 lebt und arbeitet die Kaisterin im ukrainischen Lutsk. Dass dort trotz Krieg eine gewisse Normalität herrscht, erzählt sie im Gespräch.

Susanne Hörth

«Es ist unglaublich, dass das alles schon wieder zwei Jahre her ist. Einerseits scheint es so kurz, andererseits ist in der Zwischenzeit so viel passiert, dass es mir viel länger vorkommt», erzählt Caro Kleissen. Statt im März hatte sie im August 2022 zusammen mit ihrer Fox-Terrier-Hündin die Reise in die Ukraine angetreten. Insgesamt 2300 Kilometer legten sie zurück; mit dem Auto, nicht wie geplant mit dem Flugzeug. Nein, Angst habe sie keine gehabt. «Sonst hätte ich den Zeitpunkt der Abreise weiter verschoben.» Am 25. August 2022 kam sie in Lutsk, ihrem neuen Wohnort, an.

Wie reagieren die Leute, wenn sie erfahren, dass man in ein Land auswandern will, in dem Krieg herrscht? Darauf Caro Kleissen: «Kopfschütteln und Staunen gab es sowohl in der Schweiz als auch hier. Auch schon vor dem Krieg, als ich erzählte, wohin ich auswandern würde.» Es sei ja schon ein sehr unüblicher Schritt, ein reiches und komfortables Land wie die Schweiz zu verlassen. Gleichzeitig auch alle Sicherheiten, wie eigenes Haus, Job usw. hinter sich zu lassen. «Und einen kompletten Neuanfang in einem Land zu wagen, von dem die meisten Leuten überhaupt nichts wussten.» Letzteres, betont sie, habe sich seit Kriegsbeginn geändert.

In den Nachrichten sehe man die ständigen Bombenangriffe, die Verwüstungen, das Elend, das Leiden der Menschen. «Durch meine Freunde in der Ukraine wusste ich stets, wie die Situation vor Ort in Lutsk war», blickt sie auf die Zeit vor ihrer Abreise zurück. Zur aktuellen Situation heute fügt sie an: «Hier im Westen sieht es ganz anders aus als zum Beispiel in Charkiv, Cherson, Donetsk, Luhansk oder Kyiv.» Hierbei erwähnt sie die grossen Distanzen. Um beispielsweise von Lutsk nach Kyiv zu kommen, muss sie eine sechsstündige Autofahrt zurücklegen. Von Kaisten aus würde man in dieser Zeit Paris oder Bologna erreichen. Die Ukraine ist 15-mal grösser als die Schweiz. Obwohl sie relativ weit weg vom aktiven Kriegsgeschehen lebt, sei der Krieg stets präsent. «Luftalarm gibt es fast täglich, auch mehrmals am Tag und das über mehrere Stunden.» Einmal habe es einen Raketenangriff in nächster Nähe, zwei Kilometer entfernt, auf ein Elektrizitätswerk gegeben. «Das war auch das einzige Mal, als ich Angst hatte und das einzige Mal, dass ich in einem Bunker war und auf die nächste Rakete wartete.»

Lebensgefahr im Osten
An die ständigen Luftalarme, stellt sie mit einem gewissen Erstaunen fest, hätten sich die Leute schnell gewöhnt, auch sie selbst. Das Leben funktioniere mehrheitlich normal. Gleichzeitig ist sich Caro Kleissen sehr bewusst, dass die Situation in Kyiv oder noch weiter Richtung Osten ganz anders aussieht. «Dort ist man permanent in Lebensgefahr.» Die Folgen des Krieges seien an ihrem Wohnort gleichwohl spürbar. «Man kann sich, wenn man es nicht selbst erlebt, nicht vorstellen, wie es ist, wenn jeden Tag ein militärischer Trauerzug vorbeifährt. Sie fahren mit Polizeibegleitung, mit Sirenen, Hupen und Fahnen. Jedes Auto auf der Strasse ist verpflichtet, anzuhalten. Die Leute steigen aus und verbeugen sich vor den Gefallenen. Das geht jedes Mal unter die Haut.»

Spannend und herausfordernd, beschreibt Caro Kleissen das Leben in ihrer neuen Heimat. Sie lobt die grosse Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der Menschen. Sie erzählt von einem Land voller Kontraste: «Der technologische Bereich ist äusserst hoch entwickelt, in vielen, vor allem digitalen Elementen, ist die Ukraine dem Westen weit voraus.» Umso überraschender sei es dann wieder, dass es beispielsweise in den meisten Haushalten keinen Staubsauger gibt. «Man hat eher Angst vor dem Ding und kehrt mit Besen.» Auch das Gesundheitswesen sei sehr weit entwickelt, Wartezeiten gebe es kaum. Weniger gut beschreibt sie hingegen die Strassen. Deren Zustand sei teils katastrophal.

Der berufliche Alltag
Zusammen mit ihren Freunden in der Ukraine hatte sie eigentlich vorgehabt, eine Ferienanlage mit Schwerpunkt Angelsport in der nordwestlichsten Ecke zwischen Polen und Weiss-Russland zu eröffnen. Der Krieg sorgte für eine Änderung der Pläne. «Stattdessen entschieden wir uns, in Lutsk zu bleiben. Wir schrieben den Businessplan um und konzentrierten uns ausschliesslich auf den Angelsport.» Am 18. März 2023 eröffneten sie dann «CaroCarp». Auf über 100 Quadratmetern würde sich alles finden, was das Anglerherz begehrt. «Den Laden führen wir zu dritt und wir haben ein paar tolle junge Verkäufer angestellt. Mittlerweile ist auch unsere Website www. carocarp.com online und wir verschicken unsere Produkte in die ganze Ukraine.» Das Geschäft sei sieben Tage die Woche geöffnet. In der Ukraine sei das so üblich. «Nein, niemals!» Damit reagiert sie auf die Frage, ob sie die Auswanderung in die Ukraine je bereut habe. In ihrem Haus lebt sie, die auch die Sprache des Landes mittlerweile gut spricht, mit ihren Hunden. Regelmässig kommen auch die Freunde, zu deren Familien sie längst zählt, zu Besuch. Aus ihrer früheren Heimat Kaisten würden ihr die Musik, die Kolleginnen und die spontanen Treffen am meisten fehlen. (sh)


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