Bomben, Schnee und Verzweiflung

  28.01.2024 Fricktal

Projekt «kriegsnachrichten.ch»: der zweite Weltkrieg Oktober bis Dezember 1943

Der Herbst 1943 markierte eine entscheidende Phase des Zweiten Weltkriegs, als die Achsenmächte ihre Kräfte gegen die Alliierten bündelten. Die neutralen Nationen, darunter die Schweiz, befanden sich weiter in einer heiklen Lage, umgeben von Krieg und Unsicherheit. Die Region Fricktal – so nah an der Grenze zum Deutschen Reich – verfolgte die Ereignisse mit besonderem Interesse.

Am 13. Oktober 1943 (in Zürich wird der spätere Rennpionier Peter Sauber geboren) erklärte Italien unter dem neuen Premierminister Pietro Badoglio dem Deutschen Reich den Krieg. Zwei Tage später wird er im «Frickthaler» unter anderem so zitiert: «Es wird für Italien keinen Frieden geben, solange auch nur ein einziger deutscher Soldat auf dem Boden unseres Vaterlandes steht. Seite an Seite müssen wir vorwärtsstürmen, gemeinsam mit unseren Freunden, den Vereinigten Staaten von Amerika, mit Grossbritannien und mit Russland, gemeinsam mit allen anderen Vereinten Nationen!»

Diplomatie der Weltpolitik
In den Wochen darauf fanden mehrere Konferenzen statt, in denen wichtige geopolitische Entscheidungen gefällt wurden: Die Moskauer Aussenministerkonferenz der Alliierten; Ende November die Kairo-Konferenz, auf der sich US-Präsident Franklin D. Roosevelt, der britische Premierminister Winston Churchill und der chinesische Generalissimus Chiang Kai-shek über die alliierten Kriegsziele gegenüber Japan einigten, und kurz darauf die Teheran-Konferenz, auf der Roosevelt, Churchill und Josef Stalin die Neuordnung Europas nach dem alliierten Sieg über Nazideutschland besprachen.

Neben der grossen Weltbühne bewegte die Menschen rund um den Globus und im Fricktal ganz Alltägliches. Mangel machte sich überall breit. Zum Beispiel titelte der «Frickthaler» am 8. Oktober «Das 7. Gebot wird nicht rationiert!». In den Sonntagsgedanken beschwerte sich der Autor darüber, dass eine Unsitte überhandnahm: Das Stehlen von Essen. «Es ist kein Geheimnis, dass in diesen Herbsttagen Leute von der Langfingerzunft da und dort ihr Unwesen treiben. Landauf, landab mehren sich die Klagen über freche Diebstähle: Das Gemüse wird aus den Gärten gestohlen; das Obst von den Bäumen; Kartoffeln vom Pflanzplätz weg, sogar aus den Kellern.» Übrigens wurden ausgerechnet im Herbst 1943 im mexikanischen Grenzort Piedras Negras von Ignacio Anaya (mex. Koseform für Ignacio ist Nacho) die Nachos erfunden, weil ein paar amerikanische Armeeangehörige noch Hunger hatten, als der Koch nicht auffindbar war. Eine weit wichtigere Entwicklung gelang zu der Zeit Wissenschaftlern an der Rutgers University mit der Isolierung des Antibiotikums Streptomycin, einem Arzneimittel gegen Tuberkulose.

Der Wind dreht sich an der Ostfront
Im Osten befanden sich Kriegsschauplätze, über die auch heute fast täglich in den Medien berichtet wird. Am 3. November begann die Zweite Schlacht um Kiew. Drei Tage später gelang in der Schlacht am Dnepr der Roten Armee die Rückeroberung der zwei Jahre zuvor von den Deutschen eingenommenen Stadt. Am 8. November verkündete der «Frickthaler» den Kriegsmeilenstein auf der Titelseite mit einem ausführlichen Bericht: «Kiew wieder in russischer Hand.» Auch die Winteroffensive von 1943/44 setzte den unaufhaltsamen Vormarsch der Sowjets in westliche Richtung fort. Im Gegensatz zur Sowjetunion mangelte es dem Deutschen Reich an bedeutenden Reserven an Personal und Material. Erschöpfung, unzureichende Versorgung und Schwierigkeiten bei der Nachschubversorgung führten zu einem raschen Abfall der Kampfkraft der deutschen Infanterie.

Berlin im Bombenhagel
Der in Basel heimatberechtigte Hermann Hesse veröffentlichte am 18. November den Roman «Das Glasperlenspiel» in Zürich. Am selben Tag begann die Luftschlacht um Berlin. Was heute als geschichtsträchtiges Datum in jeder Chronik hervorgehoben wird, fand damals in der Lokalzeitung erst als Randnotiz statt. Am folgenden Tag schrieb der «Frickthaler» unter Tagesneuigkeiten: «Berlin wurde am Donnerstagabend mit Brand- und Explosivbomben angegriffen. Nach der Formulierung der deutschen Meldung ist anzunehmen, dass es sich um ein grösseres Unternehmen handelte.» Bereits eine knappe Woche später, am 24. November fasst der «Frickthaler» das grausame Ausmass zusammen: Berlin meldet: «Schwere Schäden und Verluste unter der Bevölkerung» – London meldet: «Es steht fest, dass enormer Schaden angerichtet wurde» – Mehr als 2000 Tonnen Explosivstoff und rund 150 000 Brandbomben abgeworfen – «Enorme Brände, gewaltige Explosionen, ungeheuerliche Verwüstung» melden die Piloten – Die schweizerische Gesandtschaft beschädigt – Die schwedische und finnische Gesandtschaft vollständig zerstört – Ein neuer Grossangriff in der Nacht zum Mittwoch.

Die Schrecken des Krieges werden auch hier, in der grösstenteils unversehrten Schweiz, sehr eindrücklich wahrgenommen. Am 22. November findet sich im «Frickthaler» ein Kommentar unter dem Titel «Tränen»: «Wäre unsere Erde ein Schwamm, er wäre vollgesogen von den Tränen des Leides unserer Tage, von den geweinten und den noch herberen ungeweinten, heruntergewürgten Tränen.»

Doch natürlich hat man auch hier zu kämpfen. Die «Volksstimme aus dem Frickthal» berichtete, dass die Eidgenossenschaft mit Strombeschränkungen rechnen müsse. Zudem liess der trockene Sommer und die damit verbundene knappe Futterproduktion manchen Bauern die Frage stellen, wie er wohl seinen Viehbestand durch den Winter bringen werde.

Krieg rund um den Globus
Auch auf der anderen Seite der Erde tobte der Zweite Weltkrieg. Das Atoll Tarawa war Schauplatz einer der heftigsten Kämpfe zwischen Japanern und US-Amerikanern im Pazifikkrieg. Allerdings fanden dazu nur wenige kurze Meldungen den Weg in die Lokalzeitungen Ende November.

Gar nicht zu finden, weder im «Frickthaler» noch in der «Volksstimme aus dem Frickthal», sind Berichte über den Beginn der Operation Fortitude. Kein Wunder, denn diese streng geheime Operation diente zur Verschleierung der Operation Overlord: Die Alliierten stellten in Schottland und an der schmalsten Stelle des Ärmelkanals zwischen England und Frankreich bei Dover Attrappen von Panzern, Flugzeugen, Artilleriegeschützen und anderem Kriegsmaterial aus Holz oder Gummi als Ablenkung auf und übten in der Themse Landungsmanöver. Sie war Bestandteil einer Strategie mit dem Plan, das deutsche Oberkommando über Zeit und Ort der Invasion in Nordwesteuropa in die Irre zu führen.

Am 9. und 10. Dezember wandte sich General Guisan aus dem Armeehauptquartier im «Frickthaler» und in der «Volksstimme aus dem Frickthal» direkt an die Schweizerbürgerinnen und Schweizerbürger. Er machte auf die bevorstehende fünfte Soldatenweihnacht aufmerksam. Er bat um Anteilnahme am Abzeichenverkauf zur Mittelbeschaffung für die Soldatenpäcklein unter dem Tannenbaum.

Auch im Dezember vor 80 Jahren fand eine Bundesratswahl statt. Am 17. Dezember berichtete der «Frickthaler» ausführlich darüber. Die beiden Kammern des neu gewählten Parlaments wählten in einer Gesamterneuerungswahl den Bundesrat für die von 1944 bis 1947 dauernde Amtszeit. Nach dem Rücktritt von Bundesrat Ernst Wetter, FDP, kam es zu einer Ersatzwahl. Nach Jahrzehnten erfolgloser Bewerbungen der Sozialdemokraten wurde Ernst Nobs erster sozialdemokratischer Bundesrat.

Düstere Weihnachtszeit
Selbst Weihnachten und die letzten Tage des Jahres 1943 waren geprägt von Kriegsnachrichten: Am 24. Dezember begann in der Ukraine die Rote Armee mit der Dnepr-Karpaten-Operation. Und bereits am 30. Dezember wurden die deutschen Linien auf breiter Front von der Roten Armee durchbrochen. Zur gleichen Zeit, vom 20. bis 28. Dezember fand zudem die Schlacht um Ortona (am adriatischen Meer), eine kleine, aber extrem erbittert gekämpfte Schlacht zwischen deutschen und kanadischen Streitkräften statt.

Am 31. Dezember richteten sich Redaktion und Verlag des «Frickthalers» an die Leserschaft: «Allen unseren Abonnenten, Inserenten, Mitarbeitern und Freunden entbieten wir die besten Glück- und Segenswünsche zum Jahreswechsel, in der Überzeugung, dass sie auch im neuen Jahre 1944 unserem Blatte die Treue halten werden. Wir unsererseits legen das Versprechen ab, trotz aller Schwierigkeiten der Zeit weiterhin am Auf- und Ausbau unserer Zeitung unentwegt zu arbeiten, für unser freies, neutrales, christliches Land.»


Nachrichten aus einer kriegerischen Zeit

Das Fricktaler Projekt «Kriegsnachrichten» macht die Originalausgaben der «Volksstimme aus dem Frickthal», der «Neuen Rheinfelder Zeitung» und des «Frickthalers» aus den Jahren 1939 bis 1945 im Internet für jedermann zugänglich. Zudem erscheint viermal jährlich ein Essay, basierend auf der Berichterstattung des jeweiligen Quartals, in welchem der Autor das Kriegsgeschehen thematisiert und unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet. Stephan Graf ist Mitglied des Vereins «Kriegsnachrichten». Er wohnt in Rheinfelden.

Als dieses Projekt vor 10 Jahren gestartet wurde ging es um einen Rückblick auf schlimme, längst vergangene Zeiten des Ersten und Zweiten Weltkrieges und die Wahrnehmung in der lokalen Öffentlichkeit. Nie hätten es die Initianten des Projektes für möglich gehalten, dass wir heute in Europa wieder einen Krieg erleben müssen. (nfz)

www.kriegsnachrichten.ch


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