Ein Morgen aus Gold, ein Leben für den Fluss

  29.09.2023 Möhlin

Ein Morgen aus Gold, ein Leben für den Fluss

 

Wo Generationen noch im selben Boot sitzen

Sie stehen am Wasser und nehmen Abschied. So beginnt unsere Geschichte über einen der schönsten Orte im Dorf.

Ronny Wittenwiler

Ob der Rhein hier wohl deswegen so gemächlich f liesst, damit all die schönen Erinnerungen im Fluss der Zeit nicht so schnell vorüberziehen? Ich weiss es nicht.

Es ist der 23. September, ein Samstag, und am Anfang steht ein Aufruf. «Zahlreiches Erscheinen wird erwartet», lässt der Präsident des Wasserfahrvereins Ryburg-Möhlin wenige Tage zuvor über die legendäre Möhliner Vereinsecke in der NFZ ausrichten. Für mich ist das ein Weckruf: wo, wenn nicht hier; wann, wenn nicht jetzt?

Treffpunkt Wasserkante
Hier unten am Rhein treffen an diesem Samstagmorgen um 9 Uhr die Wasserfahrer zum Arbeitstag ein. Sie nehmen Abschied. Hinter ihnen liegt eine erfolgreiche Saison, vor ihnen liegen jetzt die Weidlinge auf der Flanke. Sie werden ins Trockene gebracht. Nebelschwaden ziehen übers Wasser, fast mystisch liegt der Fluss all jenen zu Füssen, die an diesem guten Morgen hierhergekommen sind, um seine Schönheit wahrzunehmen. Und als der Präsident verkündet, dass mittlerweile auch die Kaffeemaschine eingestempelt hat: wird aus diesem guten Morgen ein goldener.

Wir holen Thomas Hirter aus dem Kahn. Eben stand er noch mit Hochdruckreiniger und Gummistiefeln im aufgebockten Langschiff, diesem

Prunkstück des Vereins, das für gesellige Ausfahrten längst bekannt geworden ist. Hirter, 61, ist unser Mann. Nur wenige sind wie er derart verwoben mit diesem Ort am Rhein. «Ich bin hier aufgewachsen», sagt er und übertrieben ist das nicht.

Über ein halbes Jahrhundert schon ist Hirter ein Wasserfahrer. Mit elf sei er aufgenommen worden, doch gerudert auf dem Rhein da draussen, das sei er schon vorher. «Vater und Mutter haben uns Wochenende für Wochenende hier runter mitgenommen, teilweise auch unter der Woche. Fünfzehn, zwanzig Familien waren da manchmal beieinander, sassen draussen um den langen Tisch, es wurde gebrätelt, gegessen. Noch gut erinnere ich mich daran. Wir waren eine Riesenbande, die immer grösser wurde.» Und dann sagt Thomas Hirter diesen einen Satz, so, als müsste er wirklich für sich alleinstehen: «Das war eine sehr schöne Zeit damals.» Der Vater stirbt früh, 1989. Die Leidenschaft fürs Wasserfahren lebt in der Familie weiter.

Generationenwechsel
Wann genau er mit Wasserfahren angefangen hat, das weiss Nils Buchmüller nicht mehr ganz genau. «Also mit 10 bin ich sicher schon gefahren. Mit 9 ziemlich sicher auch.» Was Nils, er ist übrigens 11, ganz genau weiss: «Ich bin gerne in der Natur. Dieser Ort hier ist darum schon noch cool.»

Zwei Dinge – der Ordnung halber – müssen an dieser Stelle gesagt sein. Erstens, Nils ist aus Zeiningen und nicht aus Möhlin, doch so ein Weidling habe ja kaum Platz im Bach und Zeiningen liegt nun mal nicht am Rhein; auch deshalb sei er hier beim Wasserfahrverein Ryburg-Möhlin. Zweitens: Ob aus Nils Buchmüller in den nächsten fünfzig Jahren mal so etwas wie ein Thomas Hirter wird – wer weiss das schon so genau. «Es wäre natürlich schon cool, wenn ich mal Schweizermeister werden würde.» Weil dich dann alle vom Bahnhof abholen? Nils präzisiert: «Man muss nicht Schweizermeister werden, damit sie dich vom Bahnhof abholen. Man muss nur fahren.» – «Ach so, nur fahren?» – «Ja, nur fahren, und schon kommt die Musik.»

Die Nebelschwaden über dem Rhein verziehen sich und die Herbstsonne richtet ihr Licht auf diesen ausserordentlichen Flecken Erde. Hirter spricht über seinen Reichtum. «An einem frühen Sonntagmorgen rüstest du dir dein Schiffchen aus und ruderst los, allein auf dem Fluss.» Gerade nach so einer Trainingsfahrt den Strom hinauf, lässt es sich runterfahren. Sich treiben lassen, im wahrsten Sinne des Wortes. Und dann diese Kulisse. Diese Stille. So gesehen, sagt Hirter, hätten ihn das Wasserfahren und dieser Ort hier reich gemacht. Apropos Reichtum: Freunde rufen ihn «Thöme». Hier unten bei den Wasserfahrern nennt ihn jeder so – auch das sagt wahrscheinlich etwas aus. So wird aus einem Treffpunkt noch so viel mehr als bloss das.

Und Nils? «Ich hoffe, dass ich noch lange in diesem Verein bleiben kann. Natürlich ist das Fahren manchmal auch anstrengend. Es macht aber Spass.» Ach ja, auch das – nicht allein der Ordnung halber – soll gesagt sein: zwei Aargauer-Titel hat Nils bereits in der Tasche, zuletzt hat er in seiner Kategorie das vereinsinterne Endfahren gewonnen. Das isch Musig! Den Hirter indessen haben sie schon ein paar Mal abgeholt am Bahnhof. Dreimal durfte er sich in einem Einzelfahren zum Schweizermeister küren lassen, einmal im Paarwettfahren, hinzu kommen unzählige Titel als Aargauer Meister. Nach seinem ersten bedeutenden Titel 1987 bekommt er vom Vater einen Kranzkasten geschenkt. Der Mann, der ihm das Wasserfahren in die Wiege gelegt hatte, ahnte vielleicht, was da noch alles kommen sollte für den Sohn. Es wird ein Leben für den Fluss. Das wird an diesem Morgen aus Gold einmal mehr deutlich. «Hätte mein Vater damals Fussball gespielt, dann wäre ich vielleicht beim Fussball gelandet. Für mich ist das hier wunderbar, so wie es gekommen ist. Solange ich kann, werde ich immer wieder hierher an den Rhein kommen.» Sagt’s – und steigt mit seinen Gummistiefeln an diesem Arbeitstag wieder ins aufgebockte Langschiff, um es für den Winterschlaf bereitzumachen. Auch alle anderen, die Grossen und die Kleinen im Verein, die an diesem guten Morgen dem präsidialen Ruf nach zahlreichem Erscheinen gefolgt sind, packen weiter mit an. Hier an der Wasserkante nehmen sie Abschied von einer Saison. Bis im nächsten Frühling der Fluss sie wieder wachküssen wird.
Mein letzter Gedanke, bevor ich den Ort verlasse: Ob der Rhein hier unten wohl deswegen so gemächlich fliesst, damit all die schönen Erinnerungen im Fluss der Zeit nicht so schnell vorbeiziehen? Ich weiss es nicht. Thomas Hirter wird später in die Ferien verreisen. Natürlich ans Wasser, Marina di Venezia. Doch bald schon zieht es ihn wieder hinunter an seinen Rhein. Er kann nicht anders.

Hier ist sein Heimathafen.

 


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