Ihre Geige hat sie aus Charkiw mitgebracht

  29.01.2023 Frick, Persönlich, Gipf-Oberfrick, Musik

Oksana Potapova, Berufsmusikerin und Gast im Fricktal

Sie kennt das Fricktal aus unbeschwerten Zeiten, gab Konzerte in vielen europäischen Ländern und reiste danach wieder heim in die Ukraine. Vor zehn Monaten trieb sie der Krieg von dort weg. Zuerst bei einer Gastfamilie, lebt sie seit Herbst mit Mutter und Tochter in einer eigenen Wohnung in Gipf-Oberfrick. Morgen Abend ist Oksana Potapova in der reformierten Kirche in Frick zu hören – mit dem Streichquartett «Lviv Virtuosos».

Simone Rufli

«Nein, nicht erst bei der Ankunft in der Schweiz», sagt Oksana Potapova, «Deutsch habe ich schon in der Schule in Charkiw gelernt.» Sie verstehe das meiste, «das Sprechen muss ich noch üben», fügt sie mit einem Lächeln an. Im Gespräch wechselt sie ins Englisch, wenn sie ein Wort nicht findet oder wenn ein Gefühl sich nicht in deutsche Worte fassen lässt. Einmal nur nimmt sie das Handy zur Hand, sucht in der Übersetzungsapp nach einem ganz bestimmten Wort: dankbar. Das müsse unbedingt in der Zeitung stehen, sagt sie und beginnt: «Ich bin dankbar für all das, was die Familien in Oeschgen, Frick und Gipf-Oberfrick für mich, meine Mutter, meine Tochter und meine Musiker-Kolleginnen und ihre Familien machen. Ich bin dankbar für die Ruhe hier und die Liebe, mit der man uns empfangen hat.»

Auch wenn es nicht das komplette Orchester ist, es bedeute ihr viel, dass sie hier in der Schweiz, zusammen mit einer Bratsche-Virtuosin aus Kiew – «sie arbeitete als Konzertmeisterin beim ukrainischen TV- und Radio-Orchester» – sowie mit einer zweiten Geigerin und einer Cellistin, beide vom Kammerorchester Lviv, zusammen als Streichquartett «Lviv Virtuosos» Konzerte geben dürfe. In Bern traten sie an einem Benefiz-Konzert auf, in diversen Gottesdiensten als Begleitung. Nach Frick spielen sie in Basel zusammen mit dem Da Vinci Orchester. Von der Klinik Barmelweid kam eine Anfrage ebenso wie von Privatpersonen für Feiern im Freundeskreis. Die schöne Stimmung bei den Auftritten geniesst sie. Mozart, Vivaldi, Bortniansky, Brahms, Strauss, Kaminsky, Skoryk – sie nennt sie alle in einem Atemzug und während sie mit leuchtenden Augen erklärt, dass der Ukrainer Bortniansky noch vor Mozart als Opernkomponist in Bologna grosse Erfolge feierte, ist der Krieg weit weg.

Aus einer Musikerfamilie
Aufgewachsen in einer Musiker-Familie besuchte Oksana bereits im Alter von fünf Jahren den Geigen-Unterricht an der Musikschule in Charkiw. Der Vater Musiker, die Schwester und die Mutter beide Konzert-Pianistinnen. Sie beherrsche das Klavierspiel auch, erzählt die 42-Jährige, habe auch mit dem Klavier gearbeitet, sei der Violine aber stets treu geblieben. Ihre Geige. Sie hat sie aus der Ukraine mitgebracht. Unbeschadet? Sie lächelt und nickt. «Meine Tochter, meine Mutter, meine Geige und die Katzen – wir haben es geschafft. Alles andere musste ich zurücklassen als wir geflohen sind.»

Es war der 18. März 2022 als sie Charkiw fluchtartig und doch furchtbar langsam verliessen. «Wir standen fünf Stunden dichtgedrängt inmitten von Tausenden von Menschen am Bahnhof und warteten auf den Zug, der uns in den Westen nach Lemberg bringen sollte.» Lemberg, Lviv, deshalb, weil sie von dort aus mit anderen Musikerinnen des Kammerorchesters Lviv weiterreisen sollte. Weiter an die Grenze zu Polen, wo Orchestergründer und Dirigent Serhiy Burko mit einem Bus auf die Gruppe wartete, um sie in die Schweiz zu fahren. Der 67-Jährige hatte die Ukraine gleich nach Kriegsbeginn verlassen.

25 Stunden auf der Flucht
Als der Zug an jenem 18. März am Bahnhof in Charkiw endlich eintraf, sei das Gedränge noch schlimmer geworden. Und anstatt sich vor Angriffen beim Warten auf dem Perron zu fürchten, erfasste sie die Angst vor Raketenbeschuss während der Fahrt. «Die Nacht hindurch fuhren wir ganz im Dunkeln. Wir wollten nicht durch Licht zur Zielscheibe werden.» 25 Stunden waren sie unterwegs bis nach Lemberg. «Die Kinder weinten ununterbrochen.» Gegessen hätten sie kaum, getrunken nur das Allernötigste, «es gab ja keine Toiletten». Ihr Mann musste in Lemberg bleiben, ihr Vater, 91-jährig, wollte in Charkiw bleiben. «Strom und Wärme haben sie inzwischen an beiden Orten kaum mehr.»

«Mein Mann ist auch Musiker, er spielt Trompete», wechselt Oksana abrupt das Thema und nimmt den musikalischen Faden wieder auf, mit dem sie Glück und ganz viele schöne Erlebnisse aus dem Leben vor dem Krieg verbindet. Ein Leben, das sie als Musikerin schon in Konzertsäle in ganz Europa geführt hat – immer wieder auch in die Schweiz und nach Frick zu Dieter Wagner und seinen Chören. Zwischen 2004 und 2016 kam das anno 1994 von Burko gegründete Kammerorchester «Lviv Virtuosos» mehr als sechsmal nach Frick, um die grossen Werke zu begleiten, die Wagner mit seinen Chören zuvor einstudiert hatte. «Nur als das Orchester nach Lateinamerika reiste, blieb ich daheim.» Das Lächeln fällt ihr schwer als sie erklärt: «Mein Mann meinte damals, diese Region der Welt sei zu gefährlich.» Nach elf Monaten Krieg im eigenen Land eine grausame Ironie.

Nach den Sportferien, im März, darf Oksana Potapovas fünfjährige Tochter in den Kindergarten eintreten. Ein weiterer Schritt, sich im Gastland wohlzufühlen.

Konzert mit dem ukrainischen Streichquartett «Lviv Virtuosos», Freitag, 27. Januar, 19.30 Uhr, reformierte Kirche Frick. Entritt frei, Kollekte.


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