Vom Westen nichts Neues

  03.08.2022 Nordwestschweiz

Gastbeitrag zur Entwicklung in Europa, Osteuropa, der Ukraine und der Freiheit (Teil 2)

Mit dem Widerstand der Ukraine hat Putin nicht gerechnet, doch auf unsere Ignoranz konnte er zählen. Eine persönliche Rückschau auf Osteuropas beschwerlichen Weg zur Freiheit.

Peter Haffner*

III: Nach Osten
Während fünf Jahren war ich der Oder und der Neisse entlang gereist, der Grenze, die das Tor zu einem Osten war, den kaum ein Westler kannte. Ich war ein Exot, aber überall willkommen; in Polen, weil ich Polnisch sprach, in Ostdeutschland, weil ich Schweizer und kein «Wessi», kein verhasster Westdeutscher war. Ich hatte vor, als Nächstes Polens Ostgrenze zur Ukraine zu erkunden, verbrachte indes zehn Jahre in Amerika und verschob den Plan. Im Spätherbst 2013, als hellsichtige Köpfe erkannten, dass die Ukraine der geopolitische Brennpunkt Europas werden würde, beschloss ich, das Land zu erkunden, von dem kaum jemand mehr wusste, als dass Tschernobyl der Ort der Nuklearkatastrophe war. Als der Schalterbeamte am Spandauer Bahnhof in Berlin das Ticket zur Fahrt in die Ukraine über den Tresen schob, meinte er leutselig: «Nehmen sie genug Kondome mit!» Ich hatte Bücher über Geschichte, Land, Leute und Kultur gelesen, Kontakte geknüpft und kam im Februar 2014 in Lwiw an, als die Schergen von Präsident Janukowitsch auf dem Maidan in Kyjiw ein Blutbad anrichteten. Als der Autokrat sich nach Russland absetzte, machten Gerüchte die Runde, die Russen streckten ihre Finger nach der Krim aus.

Mein Plan, gemächlich von West nach Ost zu reisen, hatte sich zerschlagen. Ich nahm den letzten Flug nach Simferopol, die Maschine voller Journalisten und TV-Crews mit Kameras, Stativen und Leuchten. Per Bus fuhr ich nach Sewastopol, dem Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte auf der Halbinsel. Am Wachposten f latterte die russische Fahne, vier Typen in Tarnanzügen durchsuchten die Gepäckablagen.

Tage zuvor hatte ich mich in Kyjiw mit einer jungen Historikerin getroffen. Kateryna war eine zurückhaltende Person, die ihre Worte sorgfältig wählte, unterlegt mit feiner Ironie. «Die Ukraine ist der Phantomschmerz Russlands», sagte sie lächelnd in dem Café, wo es nach Kuchen roch und nicht nach Krieg wie ein paar Strassen weiter auf dem Maidan. Kyjiw, die «Mutter der russischen Städte», sei den Zaren seit dem 17. Jahrhundert der Vorwand zur «Sammlung der russischen Länder» gewesen, der Eingliederung der Ukraine in ihr Reich. Putin sollte noch eins draufsetzen, als er nach der Annexion der Krim sagte, Russland und die Ukraine seien «eine Nation». In absehbarer Zukunft, fürchtete Kateryna, würde der neue Zar sich alles holen.

IV: Dreiundsechzig Tage
Dass es nicht nur die Unkenntnis ist, die Westler von Ostlern trennt, erlebte ich an einem Sonntagnachmittag bei Irena, die sich so empört hatte, eine Flasche westliches Putzmittel zum Kultgegenstand erhoben zu haben. Sie lud jeden Sonntag zu einem Salon in ihrem Haus in Warschau. Bei einer Flasche Wodka, Häppchen von Heringen, Tee, Kaffee und Kuchen trafen sich Schriftsteller und Wissenschaftler, junge Poeten und gestandene Theaterleute. Helga, eine deutsche Journalistin, die bei ihr ein Zimmer hatte, war oft dabei, einmal mit ihrem Freund. Sie fragte Irenas Bruder Janek, ob er als Kameramann mitmache bei einem Film, den sie drehen wollte. Als sie dessen zustimmende Antwort ihrem Freund übersetzte, fragte der süffisant, ob dieser Janek schon einmal eine Kamera in der Hand gehabt habe.

Janek, 65-jährig, war ein in Polen berühmter Filmemacher, und Helgas Freund war Joachim Gauck, der spätere deutsche Bundespräsident und damalige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, die «Gauck-Behörde». Er, der aus der DDR kam, war nicht der Einzige, für den die Polen und die nicht deutschen Osteuropäer Hinterwäldler waren. Zwischen Kaiser Otto III. und Richard von Weizsäcker, während tausend Jahren, hat kein deutsches Staatsoberhaupt Polen eines Besuchs für würdig erachtet. Von Friedrich dem Grossen bis zu Hitler haben Deutsche aller politischen Lager, einschliesslich der Kommunisten, die Existenz Polens für überflüssig gehalten. Helga hingegen, die Irenas Freundin geworden war, war begeistert von Polen. Das hielt ein paar Jahre, bis sie sich auf die Seite der deutschen Heimatvertriebenen schlug, worauf Irena ihr das Zimmer und die Freundschaft kündigte.

Im Krieg hatte Polen fast die Hälfte seines Staatsgebietes verloren; mit Hitlers Hilfe hatte Stalin auch Teile der Ukraine, Weissrusslands und die baltischen Staaten der Sowjetunion einverleibt. Als an der Konferenz der «Grossen Drei» in Teheran Stalin sagte, Polen müsse bis an die Oder reichen, stimmte Churchill zu. Doch während er noch auf ein unabhängiges demokratisches Polen als Bollwerk gegen den Kommunismus hoffte, hatte «Onkel Joe» schon sein künftiges Imperium vor Augen, mit Marionettenregierungen unter seinem Diktat. Ende 1944 rückte die Rote Armee in Richtung Oder vor, und als die Alliierten 1945 in Potsdam der Grenzziehung zustimmten, war nicht nur ganz Polen, sondern auch der Osten Deutschlands von ihr besetzt.

Während die kommunistische Propaganda nach dem Krieg die deutsch-polnische Freundschaft beschwor, die beiden Völker zu «Brudervölkern » und die Grenze zur «Friedensgrenze» erklärte, wurde dafür gesorgt, dass diese sechsunddreissig Jahre geschlossen blieb in den fünfundvierzig Jahren bis 1989. Nach der Gründung von Solidarnosc hatte die DDR alle Brücken zu Polen gesperrt, um ihre Bürger vor der «Solidaritätspest» zu schützen. Erich Honecker, der Staatsratsvorsitzende, hatte in Moskau auf eine militärische Intervention gedrängt und die Unterstützung der Nationalen Volksarmee zur Niederschlagung des polnischen Aufstandes angeboten. Trotz des langen Kusses auf den Mund, den ihm Leonid Breschnew im Jahr davor zum dreissigjährigen Jubiläum der DDR gegeben hatte, schlug der russische Generalsekretär und Staatschef die Bitte ab.

Polen hatte im Krieg gemessen an der Einwohnerzahl die höchsten Verluste erlitten, ein Fünftel der Bevölkerung. Rund sechs Millionen, davon drei Millionen Juden, waren Hitlers «Generalplan Ost» zum Opfer gefallen, der Auslöschung des europäischen Judentums und der Versklavung, Vertreibung und Vernichtung der «slawischen Untermenschen». Jedes polnische Geschichtsbuch zitiert Heinrich Himmlers Order: «Für die nichtdeutsche Bevölkerung des Ostens darf es keine höheren Schulen geben als die vierklassigen Volksschulen. Das Ziel dieser Volksschulen hat lediglich zu sein: einfaches Rechnen bis höchstens 500, Schreiben des Namens und eine Lehre, dass es ein göttliches Gebot ist, den Deutschen gehorsam zu sein und ehrlich, fleissig und brav zu sein.»

Im westeuropäischen Bewusstsein ist der deutsche Überfall auf Polen vom 1. September 1939 ein historisches Datum; dass zweieinhalb Wochen später die Rote Armee in Ostpolen einfiel, hingegen nicht. Während der sowjetischen Herrschaft wurden 1,25 Millionen Polen in Viehwagen nach Sibirien und Zentralasien deportiert, wo sie in Arbeitslagern, Gefängnissen und Zwangssiedlungen verelendeten oder umkamen. «Feinde der Revolution» wie Lehrer, Richter und Geistliche wurden an Ort und Stelle liquidiert; wie Hitler war auch Stalin entschlossen, die polnische Führungsschicht auszulöschen. Katyn, Twer und Charkiw, wo im Frühjahr 1940 25’000 polnische Offiziere vom sowjetischen NKWD per Kopfschuss ermordet wurden, sind noch immer keine Orte im europäischen Gedächtnis.

Den Heldenmut der Ukrainer, ihr Leben zu geben im Kampf um die Freiheit, versteht niemand besser als die Polen. Als ich in Lodz wohnte, befreundete ich mich mit meinem Nachbarn, der Herzchirurg und Direktor der Klinik war. Antek, immer mit Anzug und Krawatte, hatte im Sommer 1944 als Siebzehnjähriger am Warschauer Aufstand gegen die deutsche Besatzung teilgenommen. Dreiundsechzig Tage hatte der verzweifelte Kampf gedauert. Die Rote Armee stand auf der anderen Seite der Weichsel und wartete, bis die Deutschen – auf Himmlers Befehl – Haus um Haus gesprengt, die Stadt dem Erdboden gleichgemacht und 180’000 Einwohner getötet hatten. Russland, hatte Antek am eigenen Leib erfahren, ist nie der grosse Bruder gewesen, der dem kleinen Bruder beisteht. Während Hitlers «Tausendjähriges Reich» 1945 am Ende war, hielt die Sowjetunion ihre Kolonien in Europa bis 1989 unter der Knute. Dass der Aufstand gegen die deutsche Übermacht keine Chance gehabt hatte, war Antek bewusst. Doch er beharrte darauf, dass nicht zwangsläufig sinnlos gewesen ist, was aussichtslos war.


Peter Haffner*

Peter Haffner (1953) ist ein Schweizer Journalist und Schriftsteller. Er absolvierte ein Studium der Philosophie und Geschichte an der Universität Zürich. Anschliessend arbeitete er als freier Journalist für Schweizer, deutsche und österreichische Zeitungen und von 1991 bis 2002 als Redakteur des Monatsmagazins NZZ Folio der Neuen Zürcher Zeitung. Haffner war bis 2014 Korrespondent der Wochenendbeilage «Das Magazin» des Zürcher Tages-Anzeigers in Kalifornien. Er hat als Journalist, Essayist und Buchautor viele Jahre in Amerika, Polen und Deutschland gelebt und gearbeitet. Für seine literarischen Reportagen wurde er unter anderem mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Peter Haffner lebt heute als freier Autor in Berlin und Zürich.

p.haffner@gmx.com


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