Ruhe vor dem Sturm?

  04.09.2022 Fricktal

In wenigen Tagen ist es so weit. Dann gibt die Nagra bekannt, in welcher der drei verbliebenen Regionen sie ein Tiefenlager für radioaktive Abfälle bauen möchte. Trifft es den Bözberg oder kommt die Region ungeschoren davon? Beim Bundesamt für Energie (BFE) rechnet man damit, dass die Bevölkerung mit der Bekanntgabe den Widerstand verstärken wird. (sir)


Welche Region erhält den Zuschlag?

Bözberg, Züricher Unterland oder Zürcher Weinland?

In wenigen Tagen gibt die Nagra bekannt, welche der drei Standortregionen sie für den Bau eines Tiefenlagers für radioaktive Abfälle am geeignetsten hält. Ein Blick auf die drei Regionen und ins Ausland, wo es unterschiedliche Beispiele gibt, wie Standortregionen gefördert werden.

Simone Rufli

Es war im Dezember 2021 anlässlich der Vollversammlung der Regionalkonferenz Jura Ost in Laufenburg, als Pascale Künzi, Fachspezialistin Entsorgung beim Bundesamt für Energie (BFE), gegenüber der NFZ meinte: «Hat sich die Nagra erst einmal öffentlich zu einer Region bekannt, steigt der Grad der Betroffenheit in der Bevölkerung rapide an. Ab dann ist damit zu rechnen, dass die Bevölkerung den Widerstand verstärken wird. Dabei beruht die Standortwahl einzig auf den Grundlagen der Geologie.»

Neun Monate später steht die Standortwahl kurz bevor – sie ist für den September terminiert. Zur Wahl stehen die drei Standortregionen Jura Ost (JO), Nördlich Lägern (NL) und Zürich Nordost (ZNO). Betroffen sind, teilweise überlappend, Gebiete in den Kantonen Aargau (JO, NL), Zürich (NL, ZNO), Schaffhausen (ZNO) und Thurgau (ZNO). An allen drei Standortregionen sind deutsche Grenzgemeinden in den Landkreisen Waldshut (JO, NL, ZNO) und Konstanz (ZNO) beteiligt.

Jura Ost (Region Bözberg) ist mit 587 Quadratkilometern f lächenmässig die grösste Standortregion. Mit einer Bevölkerung von knapp 220 000 ist sie auch die bevölkerungsreichste. Die Region Bözberg weist im Vergleich mit den beiden anderen Regionen mit 375 Einwohner pro Quadratkilometer die höchste Bevölkerungsdichte auf.

Nördlich Lägern ist mit gut 440 km2 flächenmässig die kleinste Standortregion, liegt mit etwa 154 000 Einwohnerinnen und Einwohnern aber bevölkerungsmässig an zweiter Stelle. Die Einwohnerdichte ist auf Schweizer Seite mit 443 Einwohner/km2 mehr als doppelt so hoch wie im Landesschnitt (Agglomeration Zürich). Auf deutscher Seite sind die eher ländlich geprägten Gemeinden des Klettgaus Teil der Standortregion (172 EW/km2).

Zürich Nordost schliesslich umfasst gut 450 km2. Mit knapp 130 000 Personen weist diese Standortregion die geringste Bevölkerungszahl auf. Die Standortregion hat mit 285 EW/ km2 zudem im Vergleich die geringste Bevölkerungsdichte. Mit Schaffhausen ist die Kerngemeinde einer Agglomeration Teil der Standortregion.

Neue Wege der Zusammenarbeit
Alle drei Standortregionen liegen quer zu bestehenden Planungs- und Verwaltungsräumen und machen neue Wege der Zusammenarbeit erforderlich. Das Sachplanverfahren Geologisches Tiefenlager (SGT) sieht vor, dass die Entwicklung in der Standortregion unterstützt werden kann, soweit diese durch das geologische Tiefenlager beeinflusst wird. Für die Finanzierung dieser Massnahmen können etwaige Abgeltungen eine Rolle spielen.

Dr. Roland Scherer und Daniel Zwicker-Schwarm, die Autoren einer Studie der Uni St. Gallen mit dem Titel «Vertiefte Untersuchung ‹Organisationsstruktur für Regionalentwicklung›» stellen fest, dass bisher vor allem die mit der räumlichen Planung befassten Organisationen sich mit dem Tiefenlager auseinandersetzen. «Es ist vielfach (noch) kein Thema der mit Standort- und Wirtschaftsförderung oder mit Tourismus befassten Organisationen. Diese ‹Aufmerksamkeitslücke› gegenüber dem Langzeitprojekt Tiefenlager liegt zum einen an der eher kurz- bis mittelfristigen Orientierung von Wirtschafts- und Tourismusakteuren, kann im Einzelfall aber auch das Ergebnis einer bewussten Strategie sein, die eigene Organisation nicht mit dem Projekt Tiefenlager in Verbindung bringen zu wollen», so die Autoren der Studie, die im Auftrag des Bundesamtes für Energie (BFE) erarbeitet und im Juni dieses Jahres veröffentlicht wurde.

Die betroffene Standortregion täte gut daran, sich frühzeitig Gedanken darüber machen, welche Organisation sich um die tiefenlagerbezogene Regionalentwicklung kümmern solle. Ob lose, netzwerkartige Strukturen oder feste, hierarchische Institutionen mit klaren Entscheidungskompetenzen zu den regionsspezifischen Bedürfnissen passen.

Blick über die Grenze
In der Studie wurde auch untersucht, wie andere Länder mit der Situation umgehen. Als Beispiele dienten Frankreich (Bure), Belgien (Dessel) und Deutschland (Asse). In allen drei Ländern wurden unterschiedliche Strukturen aufgebaut und Instrumente entwickelt, um eine tiefenlagerbezogene Regionalentwicklung umzusetzen.

In der lothringischen Gemeinde Bure, einer strukturschwachen Region, wo seit 2000 ein Felslabor eingerichtet wurde, das bis 2027 zu einem (rückholbaren) Tiefenlager für hoch- und mittelradioaktiven Abfall ausgebaut werden soll, habe es nicht zuletzt aufgrund der erwarteten positiven Regionalentwicklung relativ wenig lokalen Widerstand gegen das Projekt gegeben. Zudem förderten Infrastrukturprojekte, getragen von Sonderorganisationen mit starker Einbindung des französischen Zentralstaates, die Akzeptanz.

Wenig Widerstand gebe es auch in Belgien rund um das projektierte Oberf lächenlager für schwachbis mittelradioaktive Abfälle, das gegenwärtig in Dessel in der Region Flandern entsteht. Geplanter Startzeitpunkt ist das Jahr 2024. Als Betriebszeitraum sind rund 300 Jahre geplant. «Sowohl Dessel (9600 Einwohner) als auch die Nachbargemeinde Mol (37000 Einwohner) haben als Standort von Produktionsanlagen für Kernbrennstoffe bzw. einem Kernforschungszentrum einen wirtschaftlichen Bezug zur Kernenergie», so die Studie der Uni St. Gallen. In Dessel wurde ein lokaler Fonds für die regionale Entwicklung eingerichtet und ein Masterplan legt fest, dass das Endlager in ein Projekt mit einem langfristigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusatznutzen für die Region integriert wird.

Auch in Deutschland wurde die Stiftungsform gewählt. Dort fördert die im Jahr 2015 durch das Bundesland Niedersachsen gegründete «Zukunftsfonds Asse Stiftung» mit jährlich rund 3 Mio. Euro Projekte, die der Region rund um das Forschungsbergwerk Asse zugutekommen sollen. 1967 bis 1978 wurden im Forschungsbergwerk Asse rund 126 000 Fässer mit schwach- und mittelradioaktiven Abfällen eingelagert. 1995 wurden die Forschungsarbeiten eingestellt und 2007 die endgültige Schliessung beantragt. Vorgesehen ist eine Rückholung der Abfälle aus der Schachtanlage ab 2033.


2022, 2025, 2029

Die Standortwahl im September ist eine reine Absichtserklärung der Nagra. Mit diesem Schritt an die Öffentlichkeit sorgt die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) dafür, dass weder Behörden noch Öffentlichkeit von der für Ende 2024, Anfang 2025 geplanten Wahl im Rahmenbewilligungsgesuch (RBG) überrascht werden. Die in wenigen Tagen erfolgende Bekanntgabe der Standortwahl soll es der Nagra ermöglichen, alle weiteren standortspezifischen Untersuchungen in der betroffenen Region «offen und transparent» durchzuführen. Grundlage für alle weiteren, standortspezifischen Abklärungen bilden die aus den vorherigen Etappen gewonnen Erkenntnisse.

Zwischen 2022 und 2024 wird die Nagra eine Reihe von Berichten einreichen zur Begründung ihres Vorschlags, zur Sicherheit, zur Abstimmung mit der Raumplanung und der Umwelt. All das dient der Vorbereitung für das Rahmenbewilligungsgesuch (RBG), welches die Nagra dann voraussichtlich Ende 2024, Anfang 2025 einreichen wird. Für die sicherheitstechnische Prüfung ist das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI) als Aufsichtsbehörde zuständig.

Den Entscheid über das RBG fällt der Bundesrat voraussichtlich im 2029, das Parlament im 2030. Gegen die Erteilung der Bewilligung kann das Referendum ergriffen werden. Ein eventuelles fakultatives Referendum käme zirka 2031 zur Abstimmung.

Mit der Bekanntgabe der Standortwahl beginnt für die betroffene Region jetzt also eine noch engere Zusammenarbeit mit der Nagra, insbesondere im Bereich der Oberflächenanlage und der Oberflächeninfrastrukturen. Zudem sollte die Region sich Gedanken um ihre Entwicklung in den unterschiedlichsten Bereichen machen. (sir)


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