Keim der Hoffnung

  24.02.2023 Brennpunkt

Susanne Hörth

Wie viele von uns wussten vor einem Jahr, wo Cherson, Luhansk oder Charkiw liegen, wie viele Leute dort leben oder welch strategische Bedeutung diese Städte für ihr Land haben? Ein Land, das flächenmässig zwar das zweitgrösste Europas ist, wir dennoch nur selten Berührungspunkte mit ihm haben. Seit 365 Tagen ist das anders.

Heute vor einem Jahr geschah das, was wir schlicht nicht für möglich gehalten haben: Mit dem Einmarsch der Russen in die Ukraine herrschte plötzlich Krieg in Europa. Durch den russischen Angriff rückte ein Land, von dem wir bisher nicht viel wussten, in unseren Fokus. Gleichzeitig erfasste eine in diesem Masse wohl nicht gekannte Solidaritätswelle auch die Schweiz. Viele von uns wurden Gastgeber für Menschen, die wir zuvor weder gekannt hatten, geschweige deren Sprache wir sprechen. Wir öffneten unsere Türen, hofften und hoffen noch immer mit den Geflüchteten, dass endlich Friede wird, sie wieder nach Hause kehren können.

Seit nunmehr 365 Tagen begleiten uns auf den unterschiedlichsten Kanälen die teils nicht fassbaren Bilder des Krieges. Zu einem vertrauten Gesicht ist auch längst jenes des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski geworden. Ein Mann, der seit Kriegsausbruch unentwegt an vorderster Front kämpft. Nicht mit Waffen und nicht auf dem Schlachtfeld, sondern mit viel Charisma und der richtigen Wortwahl ist er stetig omnipräsent, dadurch sicht- und spürbar. Er motiviert seine Landsleute zum Durchhalten und bekommt bei den befreundeten westlichen Ländern milliardenschwere Unterstützung.

Darüber, den Krieg, die Hoffnung, das Leben ausserhalb ihrer Heimat, über Ängste, Hoffnung und vieles mehr sprechen die ukrainischen Gef lüchteten bei uns untereinander. Sie tun es bei physischen Begegnungen oder auch in ihren Chats. Gastgeber bekommen durch die bei ihnen lebenden Geflüchteten vielfach auch vertiefte oder manchmal einfach etwas andere Einblicke. Sie erfahren von Situationen bei den in der Ukraine verbliebenen Familienmitgliedern, von Männern, die dort als Soldaten ihr Land verteidigen müssen, von Freunden, die so viel verloren haben. In den Stolz über ein Land, dessen Militär der Grossmacht Russland mit so unglaublicher Standhaftigkeit entgegentritt, mischt sich auch immer wieder Heimweh. «Wir wollen nicht hierbleiben. Wir wollen nach Hause», sagen ganz viele, die hier leben und die sich hier zurechtfinden müssen und sollen. Es sind stolze Leute, von denen die meisten sehr dankbar sind, für das, was ihnen bei uns ermöglicht wird. Es sind gleichzeitig auch stolze Leute, die vor dem Krieg gewohnt waren, ein eigenes, selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Kinder und sich in Sicherheit zu wissen, dafür harren viele aus. Je länger der Krieg dauert, desto mehr nimmt die Belastung zu, es zehrt an den Gemütern. Und das nach einem Jahr des emotionalen Mittragens auch zunehmend bei vielen Gastgebern.

«Am 24. Februar 2022 stand unser Leben still. Es wäre so schön, wenn jemand sagen würde, es ist Friede, ihr könnt wieder zurückkommen», sagte kürzlich eine ukrainische Mutter, die mit ihrem Kind und dessen Grossmutter seit bald einmal Jahr fernab der Heimat in der Schweiz lebt.

Ja, der Wunsch nach Frieden ist gross. Stillstand war und ist das Leben aber nie. Die Zukunft ist immer in jedem Augenblick präsent. Zuversicht und Hoffnung müssen darin zwingend Platz haben. Da passt auch die Aussage des ukrainischen Präsidenten Selenski zu Wochenbeginn. Anlässlich des Jahrestages des russischen Einmarsches in die Ukraine sagte er in einer Videobotschaft, die Ukraine werde diese historische Konfrontation gewinnen. Es ist wieder ein Keim der Hoffnung.


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