«Ich bin ein bisschen ein Wegweiser»

  25.12.2022 Ittenthal

Seit rund zehn Monaten unterstützt Elena Scheidegger die ukrainischen Geflüchteten, die in Kaisten und Ittenthal Zuflucht gefunden haben. Sie übersetzt, begleitet zu den unterschiedlichsten Terminen und erleichtert das Kennenlernen von Leuten und Region. Sie macht es unentgeltlich und ist dankbar, etwas zur Integration beitragen zu können.

Susanne Hörth

«Vom zweiten Tag des Krieges an», erwidert Elena Scheidegger auf die Frage, wann sie sich entschlossen hat, der schieren Verzweiflung und der Angst mit aktivem Tun entgegenzutreten. «Ich bin in Sicherheit. Nicht aber meine Familie, meine Bekannten, meine Freunde und viele andere Menschen.» Seit 25 Jahren lebt Elena Scheidegger mit ihrem Mann Fritz und den beiden Töchtern in der Schweiz, seit etwas mehr als zwei Jahren im Kaister Ortsteil Ittenthal. Aufgewachsen ist sie in der Ukraine. Dort lebte zum Zeitpunkt des russischen Angriffskrieges in einer der umkämpften Städte auch Elena Scheideggers Mutter.

Die grosse Sorge seiner Frau liess Ehemann Fritz Scheidegger nicht lange zögern. Er setzte sich nach einigen Abklärungen und Vorbereitungen ins Auto, fuhr los und holte seine Schwiegermutter in die Schweiz. Das war vor fast zehn Monaten. Seither lebt die Mutter bei Tochter und Schwiegersohn in Ittenthal. Sie gehörte damals zu den ersten ukrainischen Flüchtlingen in Kaisten.

Der unerwartete, grosse Flüchtlingsstrom aus Osteuropa überforderte in der Anfangszeit Bund, Kantone und Gemeinden. Die erste grosse Hürde für die Geflüchteten war und ist nach wie vor die Sprache. Mit ihrer Mehrsprachigkeit Deutsch-Ukrainisch/Russisch wurde Elena Scheidegger schon bald zur Brückenbauerin. Als die Gemeinde Kaisten sie um Übersetzungshilfe bei den ukrainischen Geflüchteten bat, sagte sie sofort zu. So selbstverständlich dieses Ja war, so selbstverständlich war für sie auch, dass sie es unentgeltlich machen wird. «Ich mache es gerne. Ich übersetze, begleite die Leute bei Arztbesuchen, unterstütze sie bei Gesprächen in der Schule und zeige ihnen, wo sie beispielsweise einkaufen können.» Immer wieder erklärt sie zudem, was wie in der Schweiz funktioniert; betont, dass Vorschriften und Gesetze für alle gelten, unabhängig der Nationalität.

Für die im Dorf zurzeit lebenden ukrainischen Geflüchteten wie auch deren Gastgeber ist sie jederzeit auch telefonisch erreichbar. Sei es für eine kurze Erklärung, für eine Übersetzung oder einfach zum Zuhören. Elena Scheidegger ist es ein grosses Anliegen, dass die hier lebenden Ukrainerinnen und Ukrainer dank ihrer Unterstützung selbstständiger werden und sich zusehends besser im Alltag zu helfen wissen. Sie sieht sich deshalb auch als eine Art Wegweiser.

Seit 25 Jahren in der Schweiz
Elena Scheidegger hat ihren Mann Fritz in der Ukraine kennen und lieben gelernt. Er lebte einige Jahre in der Ukraine und eignete sich dabei Wissen über das Land und die Sprache an. Seine Ehefrau tat es ihm gleich, als sie vor 25 Jahren mit ihm und der Tochter in die Schweiz zog. Auch die damals Neunjährige konnte sich schon nach einem halben Jahr mit ihren Gspännlis in der Schule auf Deutsch unterhalten. Sich gegenseitig helfen und gleichzeitig auch die Selbstständigkeit fördern, ist gelebter Alltag im Hause Scheidegger: «Unsere ältere Tochter hat seit Geburt eine zerebrale Lähmung. Wir haben sie trotzdem immer ermuntert, alles zu machen. Sei es Velofahren, Skifahren und so weiter. Sie hat das alles gelernt», sagt Elena Scheidegger voller Stolz über ihre älteste Tochter, die mittlerweile selbst Mutter eines sechsjährigen Bubens ist. Der gleiche Stolz spricht aus der Stimme der Ittenthalerin, wenn sie von ihrer jüngeren Tochter, die in der Schweiz geboren ist, erzählt. «Ich bin halt durch und durch ein Familienmensch, liebe es, wenn ich sie alle um mich haben kann.»

Wer bei Elena Scheidegger im gemütlichen Zuhause in Ittenthal sitzt, kommt nicht umhin, die vielen schönen Möbel zu bewundern. Die meisten von ihnen hat Elena Scheidegger mit grossem handwerklichem Geschick restauriert, ihnen neues Leben eingehaucht oder sie gar selbst gezimmert. Auf dieses Hobby sei sie durch ihren Ziehsohn gekommen. Der Junge hat in seiner Kindheit aufgrund der schwierigen Situation bei sich zuhause sehr viel Zeit bei den Scheideggers verbracht, oft auch bei ihnen gelebt. Seine Berufswahl zum Schreiner liess auch bei «Adoptivmutter» Elena die Begeisterung für das Werkmaterial Holz wachsen. Energie tankt Elena Scheidegger nicht nur beim Wirken mit Holz oder bei der Arbeit im grossen Garten. Zusammen mit ihrer jüngeren Tochter trifft man sie regelmässig beim Kickboxen-Training an. «Es geht dabei nicht ums Schlagen. Natürlich lernt man auch, sich zu verteidigen. Dieser Sport fördert das Gleichgewicht, die Ausdauer und das Vertrauen in sich selbst.»

Das Helfen geht weiter
Das nächste Hilfsprojekt hat schon wieder begonnen. «Gute Bekannte von uns haben im Krieg alles verloren. Mit dem Auto meiner Schwester konnten sie flüchten. Dank der grossartigen Unterstützung aus Kaisten konnte hier nun eine Wohnung gefunden werden», erzählt Elena Scheidegger. Die kleine Familie – ein Ehepaar mit einem 13-jährigen Sohn – trafen Dienstagnacht in Ittenthal ein. Hier bei Elena und Fritz Scheidegger werden sie einige Tage bleiben, bis die dank weiterer Hilfe der Bevölkerung eine möblierte Wohnung beziehen können.


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