«Es wird wahnsinnig viel abgerissen»

  30.12.2022 Fricktal

Henri Leuzinger hat den Aargauer Heimatschutz mitgeprägt

Während 14 Jahren war Henri Leuzinger aus Rheinfelden Geschäftsführer des Aargauer Heimatschutzes. Ende November hat der 73-Jährige das Amt niedergelegt. Im Interview spricht er über Heimat und Verhinderer.

Valentin Zumsteg

NFZ: Herr Leuzinger, was bedeutet für Sie Heimat?
Henri Leuzinger:
Heimat ist dort, wo ich mich wohlfühle und mich zurechtfinde. Wo ich gar nicht lange überlegen muss, welchen Weg ich nehme, um in die Beiz, den Laden oder den Park zu kommen.

Wie identitätsstiftend sind dabei Gebäude?
Ich glaube, markante Gebäude sind in jeder Gemeinde und jeder Stadt Merkpunkte, mit denen viele Bewohner ihre eigene Geschichte verbinden. Das gibt das spezielle Gefühl, das Heimat ausmachen kann.

Der Heimatschutz setzt sich für den Erhalt und die Pflege des gebauten Erbes ein, gleichzeitig will er eine qualitätsvolle Weiterentwicklung fördern. Was geht vor?
Das ist sehr unterschiedlich. Wenn ein Baugesuch für den Abbruch von Altbauten eingereicht wird, dann schaut der Heimatschutz, was für die jeweilige Epoche typisch und erhaltenswert ist. Wenn es sehr viele Gebäude aus der gleichen Epoche gibt, die keinen grossen Eigenwert haben, dann kann man einzelne Gebäude sicher abreissen. Anders sieht es bei einem Solitärbau aus, der als wichtiger Zeuge für eine Epoche gilt. In so einem Fall geht der Schutz vor.

Im Aargau gibt es den Denkmalschutz. Wieso braucht es heute den Heimatschutz noch?
Wir leben in einer Zeit, in der wahnsinnig viel abgerissen wird und viele Neubauten entstehen. Viele neue Gebäude sind Durchschnittsarchitektur und Renditeobjekte. Irgendwelche «Schuhschachteln», die ein paar Jahrzehnte lang genutzt und danach wieder abgerissen werden. Das ist eigentlich eine verrückte Sache. Wir vom Heimatschutz setzen uns dafür ein, dass nicht einfach so viele alte Häuser abgebrochen, sondern dass sie transformiert, also umgebaut werden. Die prägenden Elemente eines bestehenden Baus oder einer Baugruppe sollen erhalten und neu genutzt werden. Das ist nachhaltiger als abreissen.

Der Heimatschutz hat den Ruf, ein Verhinderer und Bremser zu sein. Wie sehen Sie das?
Das wurde früher so wahrgenommen, das Image haben wir heute noch. Das Wort Schutz steht für etwas Bewahrendes, es stellt sich gegen etwas Neues. Wenn man aber die Praxis anschaut und zum Beispiel schaut, was wir mit dem Heimatschutz-Preis ausgezeichnet haben, dann sind viele Neubauten dabei. Auch beim Wakkerpreis für Rheinfelden sind die qualitätvollen Neubauten erwähnt worden. Die Weiterentwicklung eines Ortsbildes mit Neubauten, die prägnant und von hoher Qualität sind, gehört zu unserem Verständnis des Heimatbegriffs.

Apropos Begriff: Ist der Name Heimatschutz heute noch zeitgemäss?
Es gibt seit Jahren Diskussionen, ob dieser Name beibehalten werden soll oder nicht. Traditionalisten betonen, dass der Begriff zwar alt wirkt, aber eben auch so in der Gesetzgebung verankert ist. Es gibt aber durchaus Stimmen, die sich einen neuen Namen wünschen. Man kam schliesslich zum Schluss, dass dieser etablierte Name beibehalten werden soll.


«Die Mittelschule ist ein exzellenter Standortfaktor für Stein»

Interview mit Henri Leuzinger vom Aargauer Heimatschutz

Der Rheinfelder Henri Leuzinger hat in den vergangenen 14 Jahren als Geschäftsführer den Aargauer Heimatschutz mitgeprägt. Im Interview mit der NFZ erklärt er, wie er die bauliche Entwicklung des Fricktals sieht.

Valentin Zumsteg

NFZ: Herr Leuzinger, der Heimatschutz ist eine private Organisation. Welche Legitimation hat er?
Henri Leuzinger:
Die Heimatschutz-Organisationen sind Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet worden. Zu jener Zeit hat es praktisch noch keinen staatlichen Ortsbildschutz gegeben. Es gab erste Ansätze der Denkmalpflege, doch dabei ging es nur um Top-Objekte wie das Bundeshaus, Schlösser oder bedeutende Kirchen. Die Gründer des Heimatschutzes hatten einen erweiterten Schutzbegriff im Auge, sie waren der Meinung, dass der Staat zu wenig macht und daher diese private Vereinigung nötig sei. Dieser Meinung sind wir immer noch. Der Aargauer Heimatschutz zählt heute rund 750 Mitglieder, wir konnten diese Zahl in den letzten Jahren stabil halten, freuen uns aber über jeden Neuzugang!

Ab welchem Alter sind Bauten schützenswert?
Lange Zeit war es im Kanton Aargau so, dass nur Gebäude, die vor 1920 erstellt worden sind, als schutzwürdig galten. Auf Druck des Heimatschutzes ist dies später angepasst worden, denn die Zwischenkriegszeit und die Nachkriegszeit wurden zuvor nicht berücksichtigt. In dieser Zeit gab es aber auch prägnante Bauten, die heute schon gefährdet sind. Also sagen wir vom Heimatschutz, dass auch Gebäude bis 1970 und teilweise jünger geschützt werden können, wenn sie für die Zeitepoche charakteristisch sind. Ein berühmtes Beispiel ist die moderne Abdankungshalle im Friedhof Rosengarten in Aarau. Diese steht heute schon unter Denkmalschutz.

Der Erhalt von prägenden Bauten ist sicher wichtig, doch heute ist der Klimawandel ein grosses Thema. Wieso sind zum Beispiel in der Rheinfelder Altstadt Solarziegel nicht möglich?
Rheinfelden gehört zu den Ortsbildern von nationaler Bedeutung. Solche Ortskerne bieten baulich eine grosse Qualität, die sich auch auf die Dachlandschaft erstreckt, sodass es nicht angezeigt ist, hier Photovoltaik-Anlagen anzubringen. Solche Anlagen können ausserhalb des Ortskerns zum Beispiel auf Gewerbebauten installiert werden, es braucht sie nicht im Zentrum. Strom lässt sich ja im Verbund relativ leicht transportieren. In Rheinfelden gibt es Photovoltaik-Gemeinschaftsanlagen auf dem Feuerwehrmagazin und auf Gewerbebauten, an denen sich Private beteiligen konnten. Solche Konzepte sollten unbedingt gefördert werden.

Solarziegel kann man heute aber kaum mehr von anderen Ziegeln unterscheiden, wäre das nicht eine Chance?
Es ist tatsächlich so, dass Solarziegel nicht auffallen. Sie haben sich aber nicht so bewährt, das Kosten-Nutzen-Verhältnis ist im Vergleich zu den grösseren Panels schlecht.

Abgesehen von Solarziegeln, müssten die alten Bestimmungen über den Altstadtschutz in Rheinfelden überarbeitet werden?
Ich glaube schon. Rheinfelden verfügt über eine Spezialplanung für die Altstadt. Dieses Instrument hat sich lange Zeit bewährt, aber es ist viel zu kompliziert. Es gibt drei verschiedene Teilpläne und zusätzlich einen Teilplan «Freiräume». Mit diesen vier Plänen zu hantieren, um herauszufinden, was erlaubt ist und was nicht, ist aufwändig. Heute sollte man das vereinfachen. Es lohnt sich aber, auf der bestehenden Spezialplanung aufzubauen und nur das zu ändern, was wirklich nötig ist, auch wegen der Rechtssicherheit.

Haben Sie also Verständnis für Architekten, die sagen: In Rheinfelden bauen ist sehr schwierig und kompliziert?
Ja, in der Altstadt, da habe ich Verständnis. Wobei – gute Architekten können das.

Welches sind aus Ihrer Sicht Schandflecken im Fricktal?
Es gibt im Fricktal Wohnquartiere, die aus reinen Renditeobjekten bestehen. Die sind für ein paar Jahrzehnte konzipiert, werden vielleicht eine Renovationsrunde überleben und später abgebrochen. Solche Quartiere, die häufig in den 1960erund 70er-Jahren entstanden sind, gibt es in den Dörfern und in Rheinfelden. Es ist aber schwierig zu sagen, ob man diese Objekte als Bausünden bezeichnen soll. Diese Bauten kann man mit der Zeit, in der sie entstanden sind, erklären. Heute stellt sich die Frage, was macht man mit solchen Liegenschaften? Ein Beispiel, das ich spannend finde, ist der Dianapark in Rheinfelden. Dort werden die Gebäude transformiert, also bis auf die Tragstruktur zurückgebaut und erneuert. Der Heimatschutz ist bei diesem Projekt mit der Bauherrschaft im Gespräch. Wir hatten erst kürzlich eine Sitzung mit dem Beirat, da wir vom Heimatschutz eine Einsprache gemacht haben. Ich glaube, es ist gelungen, dem Projekt eine neue Richtung zu geben, die überzeugt.

Was sind aus Ihrer Sicht die guten Beispiele im Fricktal?
Ein gutes, ja spektakuläres Beispiel ist der Bata-Park in Möhlin. Dabei handelt es sich um ein Baudenkmal, gleichzeitig wird es jetzt von der neuen Eigentümerin behutsam transformiert. Auch die Liebrüti in Kaiseraugst ist, aus der damaligen Bauzeit betrachtet, eine bemerkenswerte Grosssiedlung. Es wird spannend sein zu sehen, wie der geplante neue Turm sich in das Bestehende einfügt. Ein Vertreter des Heimatschutzes ist dort in der Kommission auch dabei. Es ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe.

Auf der anderen Seite: Was gehört aus Ihrer Sicht im Fricktal neu unter Schutz gestellt?
In den 1990er-Jahren sind in Rheinfelden auf dem Kapuzinerberg mehrere Gründerzeit-Villen abgebrochen und durch Neubauten ersetzt worden. Das war damals sehr kontrovers, die Häuser standen aber nicht unter Schutz. Später sind gewisse Einzelbauten geschützt worden. Ich glaube, man könnte heute noch ein paar weitere Bauten dazu nehmen. Zum Beispiel das Wohnhaus der Mergenthalers an der Baslerstrasse, das ist einer der wenigen Bauten der Moderne, die in Rheinfelden stehen.

Das Fricktal hat sich von einer ärmlichen Region zu einem boomenden Wirtschafts- und Wohnstandort gewandelt. Was sagen Sie zur Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte aus raumplanerischer Sicht? Was ist gelungen, was nicht?
Der Heimatschutz hat immer darauf gesetzt, dass die Entwicklung dort stattfinden soll, wo es eine gute ÖV-Erschliessung gibt. Im unteren Fricktal ist das teilweise gelungen. So hat der Schnellzug-Halt in Rheinfelden der Stadt sehr viele Neuzuzüger gebracht. Das Gleiche ist in Frick zu beobachten. In Stein liegt der Bahnhof leider etwas abseits zu den grossen Wohngebieten.

Eine starke Entwicklung ist in den kommenden Jahren vor allem im Sisslerfeld vorgesehen. Wie wird dies das Fricktal verändern?
Der grosse Entwicklungsschub, der im Sisslerfeld zum Beispiel mit der Ansiedlung der Bachem kommen wird, ist eine spannende Angelegenheit. Ungelöst ist in diesem Zusammenhang allerdings die Verkehrsproblematik der Grenzgänger. Viele von ihnen stammen aus dem Elsass und dem Hotzen- respektive Schwarzwald. Diese Grenzgänger kommen aus ziemlich peripheren Gebieten, aus kleinen Dörfern, da ist eine Anreise mit dem ÖV schwierig. Eine neue Rheinbrücke bei Sisseln, wie sie im Richtplan bereits vorgesehen ist, scheint deshalb vernünftig. Der ganze Raum Basel inklusive Agglomeration hat heute aber ein gewaltiges Verkehrsproblem, nicht nur auf der Strasse, sondern auch in der Kapazität des ÖV.

In Stein wird in den kommenden Jahren die Fricktaler Mittelschule erstellt. Welche Auswirkungen erwarten Sie?
Die Mittelschule ist ein exzellenter Standortfaktor für Stein, was das Bevölkerungswachstum und den Wohnbau anbetrifft. Eine Mittelschule gehört zu den besten Elementen einer zentralen Siedlungsstruktur.

In Rheinfelden soll das Bahnhofareal entwickelt werden. Welche Chancen und Risiken sehen Sie dort?
Eine Entwicklung beim Bahnhof ist dringend notwendig. Heute ist der Bahnhof eigentlich unternutzt. Es könnten dort auch einige architektonische Akzente gesetzt werden. Ich fände es clever, wenn es einen städtebaulichen und architektonischen Wettbewerb geben würde, so kommt man zu guten Lösungen.

14 Jahre lang waren Sie der Geschäftsführer des Heimatschutzes Aargau. Was haben Sie erreicht?
Der Heimatschutz hat in den vergangenen Jahren – nicht nur im Aargau – an Statur gewonnen. Die Arbeit geht ihm auch weiterhin nicht aus. Was ich aber sagen muss: Im Aargau haben wir mit Regierungsrat Stephan Attiger einen Baudirektor, der aus meiner Sicht mit Baukultur nichts am Hut hat. Wir haben erlebt, wie in den letzten Jahren auf der kantonalen Verwaltung der Ortsbildschutz marginalisiert worden ist. Das ist tragisch und keine gute Entwicklung, vor allem weil auch die Fachberatung für die Gemeinden gestrichen wurde.

Zum Schluss: Welche Entwicklung wünschen Sie dem Fricktal?
Es ist klar, dass die neue Mittelschule in Stein eine grössere Nachfrage nach Wohnraum mit sich bringen wird. Ich wünsche mir, dass dies clever organisiert wird und nicht einfach weitere Einfamilienhaus-Quartiere entstehen. Es braucht zeitgemässe, moderne Wohnformen, nachhaltig, verdichtet und multifunktional.


Henri Leuzinger und der Heimatschutz

Henri Leuzinger ist Geograf und Fotograf, er wohnt seit vielen Jahren in Rheinfelden. 14 Jahre lang war er Geschäftsführer des Heimatschutzes Aargau. Der Heimatschutz setzt sich als private Organisation für die Erhaltung und Pflege des gebauten Erbes ein. Baudenkmäler aller Epochen sollen vor dem Abbruch bewahrt bleiben. Gleichzeitig fördert der Heimatschutz aber auch die qualitätsvolle Weiterentwicklung der gebauten Umwelt; zeitgemässe und gute Architektur liegt ihm am Herzen. Jährlich wird der Aargauer Heimatschutzpreis für vorbildliche Leistungen im Bereich des Heimatschutzes verliehen. (nfz)

www.heimatschutz-ag.ch


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