Fräulein Gloor, das Buchfinklein und andere Vögel

  23.06.2016 Aargau, Möhlin, Persönlich, Brennpunkt, Schule, Porträt, Unteres Fricktal

Von Ronny Wittenwiler

Es ist angerichtet. Die Schinkengipfel liegen auf der Platte. Regine Roth bittet zu Tisch. Ihr vis à vis sitzt Markus Delz, ein Mann von kräftiger Statur, Exil-Möhliner. Er ist vorbeigekommen, um zu erzählen, wie es denn so war, damals, vor fünfzig Jahren: beim Diktat, auf der Schulreise, am Heimattag und beim Kopfrechnen. Keine hundert Meter hier vom Igelweg entfernt war es gewesen, drüben im Schulhaus Fuchsrain. Schüler Delz und seine Lehrerin, das Fräulein Gloor aus Rheinfelden.

Der Schulbub und seine Lehrerin
Fräulein Gloor wohnt heute schon fünfzig Jahre in Möhlin, am Igelweg, und sie heisst nicht mehr Gloor, sondern Roth. Regine Roth.

Am 25.4.1966 ist es soweit. Keine zwanzig ist Fräulein Gloor, als sie vor die Klasse tritt. Sie übernimmt eine Klasse mit fast fünfzig Mädchen und Buben – «ich war neun», erinnert sich Delz, «du hattest ein hellbeiges Oberteil, eine Art Rollkragenpulli, darüber ein Tuch, Kaschmir oder so. Als wäre es gestern gewesen.» Von wegen, gestern! Heute, über fünfzig Jahre später, sitzen sich der Schulbub von einst und seine Lehrerin wieder gegenüber.

Delz wiederholt die ihm gestellte Frage: «Verliebt?» Er grinst. Mit einer entschiedenen Tonalität gibt er seiner Antwort zusätzlich Gewicht, so als würde er auch gleich nicht glauben können, was denn diese Frage überhaupt solle. «Verliebt? Aber klar doch! Ganz sicher war ich verliebt. Fräulein Gloor war ja so hübsch und sympathisch.» Wenngleich, verliebt soll der Delz ja auch in seine Lehrerin davor gewesen sein («Die wurde dann Nonne»), und verliebt sein in die Lehrerin ist so eine Sache, vor allen mit neun, vielleicht zehn Jahren. Der Begriff der «Schwärmerei» träfe bestimmt auch zu.

Wie ein Schlosshund
Die beiden blättern im Klassenalbum. Fotos dieser allerersten Schulklasse im Leben von Regine Roth. Von der Dritten bis zur Fünften unterrichtete sie diese Klasse und dann, als es für all die Mädchen und Buben in die Oberstufe ging, die pure Verzweiflung: «Ich wollte meine Klasse zurück! Die war mir so ans Herz gewachsen.» Dabei war sie damals keineswegs nach Möhlin gekommen, um zu bleiben. Aber eben: wie das Leben nun mal so spielt. Regine Roth stand mit fünfzig auf dem Kilimandscharo, mit sechzig tauchte sie auf den Azoren, im September wird sie siebzig. Sie pflegt Geschichten in einer ihr eigenen Art wiederzugeben, ihre Sätze bieten in der Summe beste Unterhaltung, dann etwa, wenn sie erzählt, was sie beim Abschied ihrer ersten Schulklasse getan hat: geheult wie ein Schlosshund. Und warum? «Ich ha sie gliebt…, ich ha die Rasselbandi eifach gliebt!»

Auslöser für dieses Treffen war eigentlich ein einfacher Satz, völlig beiläufig, in einer E-Mail von Regine Roth: «…Übrigens, am Montag, 25. April, sind es fünfzig Jahre her, seit ich mit meinen fast fünfzig Drittklässlern das Fuchsi geentert habe.» Das ist die Geschichte dazu, und sie findet anderntags, am 26. April 1966, ihre spektakuläre Fortsetzung: Bereits am zweiten Arbeitstag hatte das Fräulein Gloor einem Schüler eine Ohrfeige verpasst.
Jetzt erstmal einen Schinkengipfel.

«Ach herrjeh!»
«Wenn man meinen Jungen nicht jeden Tag prügelt, geht bei ihm gar nichts. Halten Sie sich daran!» Ungefähr so habe ein Vater der jungen Lehrerin gleich am ersten Tag den Tarif durchgegeben. «Ich liess mich natürlich einschüchtern, dachte ‹ach herrjeh, was soll ich jetzt tun?›»
Der Bub hatte sich geweigert, sein Heft anzuschreiben. «So, zum guten Glück», habe sie gedacht, «jetzt hab‘ ich wenigstens ein bisschen einen Grund für diese Ohrfeige.» Sie zitierte den Bub vor die Tür, wenig später sass er im Zimmer, dafür war Fräulein Gloor unpässlich. Sie übergab sich auf der Toilette. «Das hat mich so hergenommen.» Es war die erste und zweitletzte Ohrfeige, die es von Fräulein Gloor absetzte. Obschon, was heisst hier eigentlich Ohrfeige. «Erst viel, viel später sagte der Schüler einmal zu mir: Das war doch keine Ohrfeige; vom Tempo eher eine Streicheleinheit.»

Der Hinterzi-Chöpfler
Die Schinkengipfel sind selbst gebacken. Roth hat viele Talente. Als junge Lehrerin absolvierte sie einen «J+S»-Sportkurs, «ich wollte meinen Buben im Turnunterricht auch zeigen, dass ich was von Fussball verstehe, Innenrist, Aussenrist, Dribbeln und so. Von Abseits habe ich noch heute keine Ahnung.» Und dann war da noch der Schwimmunterricht in der Badi Möhlin, als das adrette Fräulein Gloor ihren Schülern prompt einen «Hinterzi-Chöpfler» vom 3-Meter-Brett ins Becken serviert, die Dreikäsehochs deswegen zwar keinen Wank machen, dafür aber die ebenfalls anwesenden Jungs aus der achten Klasse sich kaum mehr einkriegen, als neben Fräulein Gloor plötzlich das Bikini-Oberteil treibt. «Die haben gegrölt und ich kaufte mir für den Schwimmunterricht einen Einteiler.»

Forsythien und Schinkengipfel
Fuchsi Möhlin. «Von keinem anderen Gebäude hatte ich bislang länger einen Schlüssel.» Regine Roth stand kürzlich mit selbst gebackener Rüeblitorte im Lehrerzimmer, blickte mit Kolleginnen und Kollegen zurück. Schwelgen in Erinnerungen ohne Taschenrechner, mit Wandtafel, Kreide, Schwamm. «Ich hatte an dieser Schule fünfzig schöne Jahre», sagt sie, und das hört sich doch ganz gut an für jemanden, der nur gekommen war, um gar nicht so lange zu bleiben. «Die mussten mich trotz meinem schlechten Zeugnis nehmen, ich war ja die einzige Bewerbung.» Fünfzig Jahre später möchte sie keinen Schultag mehr missen. «Schüler der Mittelstufe sind ein dankbares Alter. Die lassen sich für jeden Pfupf begeistern, bevor dann die Null-Bock-auf-nix Phase kommt.» Markus Delz lacht, dann holt er aus zu einem flammenden Plädoyer für seine ehemalige Lehrerin. «Unser Fräulein Gloor. Sie brachte einfach plötzlich neue Dinge in den Unterricht ein. Dinge, die es vorher nie gegeben hatte. Sie war so erfrischend an dieser Schule. Da vermittelte uns plötzlich jemand etwas von sich selber, und nicht einfach irgendeinen leblosen Stoff, den er auf dem Lehrerseminar eingetrichtert bekommen hatte.» Am Tag, an dem aus Fräulein Gloor Frau Roth wurde, stand die gesamte Primarschulklasse mit Forsythien Spalier. «Wir waren nervöser als du und dein Mann, das kannst du mir glauben.» Es war also nicht bloss für das Brautpaar ein besonderer Tag. Noch ein Schinkengipfel, quasi zur Feier des Tages.

«Das werdet ihr niemals mehr vergessen!»
Bleibt die Frage nach der zweiten und letzten Ohrfeige ihrer Karriere. Wir erfahren, dass ein gewisser Dieter diese für sich beanspruchen darf, auf einer Schulreise habe sie dem dann eins «zingiert», Schuldfrage heute ungeklärt, «ich alleine mit fünfzig Kindern, völlig überfordert, die Begleitperson war krank. Schulreisen waren Nervengeschichten, Horror.» Grosses Kino, das pure Vergnügen, wie sie davon erzählt, und dann, gegen Ende dieses Gesprächs, sagt Markus Delz plötzlich zu seiner Lehrerin von damals: «Am 6. Juni werde ich wieder an dich denken.» – «Ach so?» – «Dann nämlich auf den Tag genau vor fünfzig Jahren hast du zu uns gesagt: ‹Kinder! Heute schreiben wir ein Diktat, und das werdet ihr niemals mehr vergessen, denn heute ist der 6.6.66.›» – «He lueg jetzt. Stimmt. Das Buchfinklein. So hiess das Diktat.»

Regine Roth, fünfzig Jahre Fuchsrainschulhaus, diktierte dort das Buchfinklein, erlebte in ihren Klassen manch sonstigen Vogel – aber hey:
«Ich ha sie gliebt…, ich ha die Rasselbandi eifach gliebt!»


Regine Roth absolvierte nebst ihrem Lehrerseminar später die Ausbildung zur Legasthenie-Therapeutin; sie schloss ein Studium in Schulpsychologie mit Schwerpunkt Sonderpädagogik ab. Nach einigen Jahren als Primarlehrerin wechselte Roth in die Legasthenie-Therapie, wo sie bis heute tätig gewesen ist. Mit der Schulschlussfeier vom 24. Juni endet für Regine Roth das über ein halbes Jahrhundert dauernde Engagement an der Schule Möhlin.


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