«Ich weiss nicht, ob es etwas Trostloseres als Haiti gibt»

  26.01.2014 Gesundheit, Oberes Fricktal, Wohltätigkeit, Porträt

NFZ: Wie waren Ihre Eindrücke von Haiti und den Menschen?

Christine Loosli-Amrhein: Ich weiss nicht, ob es etwas Trostloseres als Haiti gibt. Hunger, Armut, Korruption sind so, wie es halt in Entwicklungsländern an der Tagesordnung ist. Die Wurzeln der Trostlosigkeit liegen wohl in der blutigen Geschichte des Landes. Die Haitianer sind ja ehemalige Sklaven, welche die Franzosen in rauen Mengen aus Afrika anliefern liessen. Vor gut zwei Jahrhunderten gelang es Haiti als erste Republik von Schwarzen unabhängig von den Franzosen zu werden. Die enormen Zahlungen, die Haiti an Frankreich leisten musste, trieben das ehemals reichste Land der Karibik in den Ruin. Alles ist abgeholzt, Wind, Regen und Hurrikans tragen das Ihre dazu bei, um die Erosion voran zu treiben und das Land ebenfalls auszubluten. Nach den Franzosen gaben sich schwarze Diktatoren die Klinke in die Hand. Im Gegensatz zu anderen Entwicklungsländern haben die Haitianer keine gemeinsame Kultur, keine gemeinsamen Werte, weil sie ein zusammengewürfeltes Volk sind. Es gibt nichts, was sie wirklich verbindet und woran man als Aussenstehender anknüpfen könnte.

Ihr Verhältnis zu den Weissen ist sehr ambivalent: Zum einen sind wir diejenigen, die sie verschleppt, versklavt und ausgebeutet haben, zum anderen würde Haiti heute ohne die USA und die unzähligen NGOs sicherlich wieder im Blut versinken.

 

Warum waren Sie drei Monate in Haiti?

Schon als Kind hatte ich den Wunsch, einmal einen grösseren Einsatz in einem Entwicklungsland zu leisten. Ich bin in einer Grossstadt im Ausland aufgewachsen und habe Armut und Hunger hautnah miterlebt. Als Kind revoltierte mich die Tatsache, dass eine Mitschülerin an den Folgen von Mangelernährung gestorben war, während unsere Familie sich um ihr Überleben keine Sorgen machen musste. Es ist ein unglaubliches Privileg, als Schweizer geboren worden zu sein, etwas, das ich in keiner Form «verdient» habe. Die Chancen liegen etwa bei eins zu 1000. Genauso gut hätte ich in Afrika oder eben, in Haiti das Licht der Welt erblicken können. Aus diesem Privileg wächst auch Verantwortung.

 

Was haben Sie dort gemacht?

Da ich keine medizinische Ausbildung habe, war es schwierig, etwas zu finden. Zufällig bin ich vor einigen Jahren auf Lemuel Swiss gestossen. Die Organisation ist seit 16 Jahren in Haiti, hat ein Dutzend Schulen für Schneiderinnen gebaut und bildet sie aus. Inzwischen werden die Schulen von Einheimischen geführt. Mein Mann hat mit zwei Haitianern Möbel für die Räumlichkeiten hergestellt, ich habe die Frauen zu Themen wie Ernährung, Verhütung, Gesundheit unterrichtet. Ausserdem war ich zuständig für die wöchentlichen Rundbriefe und andere Schreibarbeiten.

 

Wie muss man sich den Alltag der Haitianer vorstellen?

Das weiss ich nicht. Wir haben drei Monate im Schutz hoher Mauern und hinter Stacheldraht gelebt oder waren mit dem Auto unterwegs, weil alles andere zu gefährlich ist. Ich weiss lediglich, dass der Tagesablauf vom Sonnenlicht bestimmt wird, weil die Stromversorgung sehr willkürlich ist und manchmal tagelang ausfällt.

 

2010 war das grosse Erdbeben in Haiti. In welchem Zustand befindet sich das Land jetzt?

Das Erdbeben traf Port-au-Prince. Wir sind diverse Male durch die Hauptstadt gefahren, waren aber 120 Kilometer nördlicher untergebracht. Noch immer hausen Hunderttausende in Zeltstädten. Aber inzwischen sind die Zelte zerfetzt.

 

In welcher Sprache haben Sie sich verständigt?

Kreolisch ähnelt einem verkümmerten Französisch. Mit Haitianern, die ein bisschen Schulbildung haben, konnte ich mich französisch verständigen. Mein Mann hat sich mit Zeichensprache verständlich gemacht. Und sonst mit Dolmetscher.

 

Gab es gefährliche Erlebnisse?

Jede Autofahrt ist ein Himmelfahrtskommando. Nein, nur ein Mal hat ein Mann eine Handvoll Steine gegen das offene Autofenster nach meinem Mann geworfen.

 

Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Hilfe gebraucht und geschätzt wurde und langfristig etwas bringt?

Ja, die Menschen, mit denen wir gearbeitet haben, sind unglaublich stolz, dass sich Weisse für sie interessieren und bemüht sind, ihr Leben zu verbessern. «Langfristig» gibt es in Haiti nicht. Die nächste Katastrophe kommt bestimmt …

Selbst wenn die Frauen ausgebildet sind, ist es fast unmöglich zu überleben. Die fähigsten Frauen erhalten zwar vom Verein eine fussbetriebene Nähmaschine (da der Strom fehlt), aber woher das Geld für Stoff nehmen? Und wer kann sich neue Kleider leisten? Tonnen alter Kleider aus den USA überschwemmen den Markt.

 

Wie war die Rückkehr in die «sichere und reiche» Schweiz?

Eine heiss ersehnte Wohltat.

 

Haben Sie für sich etwas mitnehmen können aus Haiti und was?

Die Haitianer, die mit uns gelebt haben, sind fröhliche und genügsame Menschen. Weil es kaum Zerstreuung gibt, wird das Miteinander gepflegt. Am Abend sitzen sie zusammen und singen oder erzählen die immer gleichen Witze. Ich glaube, wir haben eine gewisse Gelassenheit mitgebracht. Obwohl … der Alltag holt einen so schnell ein …

 

Was wünschen Sie sich für Haiti?

Dass das Land sein Müllproblem löst. Ganze Siedlungen stehen auf Müllbergen, Bäche und Flüsse sind Müllhalden, in denen Mensch und Tier um das Überleben ringen. Wer nicht gesehen hat, wie Müll, Mensch und Tier ineinander verschmelzen, kann sich das nicht vorstellen.


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