«Behindert ist nur, wer sich hindern lässt, seine Träume zu verwirklichen»

  20.08.2021 Persönlich, Zeiningen

Nicole Geiger nimmt mit ihrem Pferd Amigo an den Paralympics teil

In diesen Tagen ist Nicole Geiger aus Zeiningen zusammen mit ihrem Pferd Amigo unterwegs zu den Paralympics, die am 24. August in Tokio eröffnet werden. Die Zeiningerin ist eine von 20 Schweizer Para-Athleten in Japan.

Janine Tschopp

Am 12. Mai 1988 veränderte sich ihr Leben auf einen Schlag. Nach einem Sturz vom Pferd öffnete Nicole Geiger ihre Augen und spürte vom Hals abwärts nichts mehr. Eine Fraktur der Halswirbelsäule hatte ihr Rückenmark verletzt, was anfänglich zu einer Lähmung ab dem fünften Halswirbel führte. Dank fachgerechter Bergung und schneller Operation konnte die Wirbelsäule rechtzeitig stabilisiert und ein grosser Teil der Nerven im Rückenmark entlastet werden. Anschliessend folgten viele Wochen im Spital und harte Reha-Monate.

Es war eine schwere Zeit, aber ihr Ziel, möglichst bald wieder im Sattel zu sitzen, hatte Nicole Geiger nie aus den Augen verloren. «Am Tag vor dem Unfall erhielt ich meinen neuen Dressursattel und den wollte ich möglichst schnell ausprobieren», schildert sie eine ihrer grossen Motivationen. Ihr starker Wille und die Unterstützung ihres Umfelds hatten sich ausbezahlt: schon nach sechs Monaten sass sie wieder auf jenem Pferd, mit welchem sie verunfallt war.

Sie lässt sich nicht hindern
Seit ihrem Unfall leidet Nicole Geiger an inkompletter Tetraplegie. Das heisst, ein Teil ihres Körpers hat aufgrund der Verletzung ihres Rückenmarks Bewegung und Sensibilität verloren. «Behindert ist nur, wer sich hindern lässt, seine Träume zu verwirklichen. Wenn man sich nicht behindern lässt, ist es ein Handicap, das sich kompensieren lässt», ist Nicole Geiger überzeugt. Ihr Handicap fällt kaum auf, wenn man der Reiterin begegnet. Wer sich achtet, stellt vielleicht fest, dass ihre rechte Hand aktiver ist als die linke. «Lange zeigte ich nicht, dass ich ein Handicap hatte. Ich ‹outete› mich erst nach einer gewissen Zeit.» Dass sie ihre Teillähmung gut kompensieren konnte, hat mir ihrem Beruf als Physiotherapeutin zu tun. Ihren erlernten Beruf konnte sie nach ihrem Unfall vorerst nicht mehr ausüben. Deshalb absolvierte sie eine Zweitausbildung als kaufmännische Angestellte. «Am Bürotisch wurde ich nie glücklich.» So begann sie, vier Jahre nach dem Unfall, wieder stundenweise als Physiotherapeutin zu arbeiten. Bald stellte sie fest, dass sie auch mit ihrer Teillähmung der linken Seite und der verminderten Sensibilität in den Füssen einen grossen Bereich abdecken konnte. Seit längerer Zeit verdient sie als selbständige Physiotherapeutin genug Geld, um einerseits ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und andererseits das Reiten, ihre grosse Leidenschaft, grösstenteils zu finanzieren.

Aufwändige Vorbereitungen und Formalitäten
Vor fünf Jahren in Rio nahm Nicole Geiger erstmals als Para-Dressurreiterin an den Paralympics teil. Ein Jahr später gewann sie an den Europameisterschaften zwei Bronzemedaillen in Para-Dressur. Die Fricktalerin, die auch viele Turniere im Regelsport, also bei den nicht handicapierten Dressurreitern, bestreitet, zählt die beiden Bronzemedaillen zu ihren grössten Erfolgen.

Nun, mit der Teilnahme an den Paralympics in Tokio, steht ein weiterer sehr bedeutender Anlass unmittelbar bevor. Nicole Geiger und ihr Pferd Amigo ist das einzige Schweizer Para-Dressur-Paar, welches antritt.

Schon in Rio seien die Vorbereitungen für die Paralympics sehr aufwändig und die Formalitäten umfangreich gewesen. Die Vorbereitungen für Tokio hätten aber alles übertroffen. Seit Juni sind die Pferde in Teilquarantäne. Die Reiterin erklärt: «Wenn ich mein Pferd verschieben möchte, muss ich dies tierärztlich begründen und abstempeln lassen. Zudem muss der Tierarzt immer einen Gesundheitstest vornehmen.» Nach 60 Tagen Teilquarantäne begaben sich die Pferde, welche an den Paralympics dabei sein werden, in Vollquarantäne nach Aachen (Deutschland). Wie Nicole Geiger beschreibt, hängen die strengen Quarantäne-Vorschriften auch mit einem Herpesvirus zusammen, welches bei Pferden in den letzten Monaten ein grosses Thema ist. Ähnlich wie beim Coronavirus versuchte man das Virus durch radikale Massnahmen in den Griff zu bekommen. «Aufgrund dieses Virus wurden im Frühling weltweit Turniere abgesagt und Sperrungen ausgesprochen», berichtet Geiger. Auch auf die Paralympics habe dieses Herpesvirus einen Einfluss, denn viele Reiter und Reiterinnen hätten aufgrund der Sperrungen und Massnahmen die Qualifikation nicht geschafft.

Dabei sein ist nicht alles
In diesen Tagen wird Nicole Geiger mit ihrem Pferd Amigo von Aachen via Liege (Belgien) nach Tokio fliegen. Für sich hat sie 32 Kilogramm und für ihr Pferd 320 Kilogramm Gepäck dabei.

Sie freut sich sehr darauf, wenn sie die Reise mit den vielen Formalitäten hinter sich hat und in Tokio ankommen wird. Auch kann sie es kaum erwarten, am 26. und 30. August zusammen mit ihrem Pferd Amigo die Prüfungen zu reiten. Speziell wird sein, dass diese Pandemie bedingt ohne Zuschauer stattfinden werden. Insbesondere bei der Eröffnungsfeier und beim Schlussgruss wird die Reiterin das Publikum vermissen. «Während der Prüfung merke ich nichts, da bin ich in meiner eigenen ‹Bubble›.» Sie kriegt jetzt noch Gänsehaus, wenn sie an die Eröffnungsfeier und das Entzünden des olympischen Feuers in Rio denkt.

Auf die Frage nach ihren Ambitionen in Tokio antwortet die 58-Jährige: «Im Sportlerherz ist immer der Traum einer Medaille. Für die einen ist er greifbarer als für die anderen.» Erfolg habe man dann, wenn Glück auf Bereitschaft treffe, sagt die Sportlerin weiter und fügt an: «Bereit sind wir. Wenn wir auch noch Glück haben, dann schaffen wir die Qualifikation für den Kürfinal. Das wäre das Ziel.» Bisher erreichte Nicole Geiger in ihrem Leben schon sehr oft, was sie sich vorgenommen hatte.


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