Dem «Rätsel von Kaiseraugst» auf der Spur

  30.05.2021 Kaiseraugst

Spätes Bekenntnis zur Urheberschaft der Sprengung des AKW-Infopavillons

Die älteren Semester unserer Fricktaler Leserschaft dürften sich noch gut erinnern: In der Nacht auf Montag, den 19. Februar 1979 um 02.12 Uhr, ereignete sich auf dem Gelände des geplanten AKW Kaiseraugst eine gewaltige Explosion. Im Nachgang zur gescheiterten Atominitiative wurde das Informationszentrum in die Luft gesprengt. Von den Tätern fehlte bis heute jede Spur. Nun gibt es ein Bekenntnis.

Walter Herzog

«Kaiseraugster Info-Pavillon total zerstört – über eine Million Franken Sachschaden – Unbekannte Urheberschaft» lauteten die Schlagzeilen in der Fricktaler Presse. «Die unbekannte Täterschaft verschuf sich Zutritt durch Einschlagen der Glastüre und deponierte eine Sprengladung von mehreren Kilo Gewicht im ersten Stock, quasi im Herzen des Zentrums. Durch die Wucht der Explosion wurde die Betondecke in einem Umkreis von 65 Zentimeter aufgerissen. Die Leichtbauelemente flogen bis zu 50 Meter weit, die in kleine Stücke von 20 bis 50 Kilo zerfetzt wurden. Einzig die Stahlkonstruktion hielt der wuchtigen Explosion stand. Durch die Druckwellen flogen Türen und Wände auf die Wiesen und Äcker.»

«Auf den drei Zufahrtswegen zum Info-Pavillon wurden von der äusserst versierten Täterschaft Plakatwände in der Grössenordnung von 40 x 60 Zentimeter mit der Warnung postiert: ‹Stopp – Zurücktreten, Polizei rufen. In 5 Minuten erfolgt schwere Explosion am Info-Pavillon›. Die Täterschaft wollte also unbedingt keine Menschenleben riskieren.» In der Folge wurden die Sprengstoffspezialisten aus Aarau und der wissenschaftliche Forschungsdienst der Zürcher Kantonspolizei aufgeboten. Auch die internationale Fahndung wurde eingeleitet. «Das Vorgehen und die perfekte Art des Sprengstoffanschlages lassen laut Kripo-Chef Leon Borer auf äusserst versierte Sprengstoffspezialisten schliessen, die sich sehr gut in den Räumlichkeiten auskannten.» Die Aktion mit der überraschenden, aber für die Bevölkerung gefahrlosen Sprengung des Infopavillons stiess bei vielen AKW-Gegnern auf eine gewisse Sympathie.

Bekenntnis eines Linksautonomen
Erst zwei Jahre zuvor war das zweistöckige Gebäude aus Stahl und Glas eröffnet worden. Es hätte eine Brücke schlagen sollen zur Bevölkerung, um bei ihr das Verständnis für die Kernkraft zu fördern. Sprengstoffanschläge nach einer Abstimmungsniederlage waren bis dahin unvorstellbar. Die Taten sind längst verjährt, aber die Urheberschaft hinter diesem Anschlag, das «Rätsel von Kaiseraugst» wurde nie gelöst. Doch jetzt bekennt sich in einer Reportage der Neuen Zürcher Zeitung einer der damaligen AKW-Saboteure zu diesem, und weiteren Anschlägen:

Giorgio Bellini, geboren in Bellinzona. Die Serie von Aktivitäten umfasste zwischen 1974 und 1984 insgesamt über vierzig Anschläge. «Direkte Aktion» nannten das Bellini und seine Komplizen in ihren anonymen Bekennerschreiben, nach Vorbildern in Deutschland, Frankreich oder Italien. Doch wer dahintersteckte, blieb immer ein Rätsel. Jetzt nimmt Giorgio Bellini erstmals ausführlich Stellung, auch zum Sprengstoffanschlag in Kaiseraugst. In der NZZ schildert Bellini die Sache wie folgt: «Am Sonntagabend, dem 18. Februar 1979, nachdem bekanntgeworden war, dass die Schweizer Stimmbevölkerung die Atomschutzinitiative mit einem Anteil von 51,2 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt hatte – die Befürworter der Kernenergie also knapp die Oberhand behalten haben, startete die Aktion. Die Gruppe, die sich an diesem Abstimmungssonntag auf den Weg macht, nennt sich «Do it yourself». Sie hat mit der knappen Niederlage an der Urne gerechnet und den Anschlag seit Wochen minuziös vorbereitet. Sobald es eingedunkelt ist, macht sich diese kleine Gruppe von militanten AKW-Gegnern auf den Weg ins Fricktal. Neben der weitgehend friedlichen Protestbewegung gegen den weiteren Bau von Atomkraftwerken, die weit in bürgerliche Kreise hineinreicht, sind in jenen Jahren auch Akteure aus der linksextremen Ecke aktiv, die vor der Anwendung von Gewalt nicht zurückschrecken. In ihrem Kleinbus haben sie 8 Kilogramm Sprengstoff, Warnschilder, zwei gestohlene Velos und Ersatzkleider dabei. In der Nähe von Kaiseraugst wird das mitgebrachte Material vom Kleinbus auf die zwei Velos umgeladen. Einer der AKW-Saboteure ist Giorgio Bellini. Zusammen mit einem Komplizen pedalt er an diesem Abend das letzte Stück zum Baugelände für das heftig umstrittene Kernkraftwerk Kaiseraugst. Der Rest der Gruppe ist mit dem Kleinbus zurück nach Zürich gefahren. Bei der Sprengung in Kaiseraugst haben sie alles unternommen, um das Risiko zu minimieren. Dazu gehörte etwa, Warnschilder aufzustellen, um allfällige Passanten vor einer bevorstehenden Explosion zu warnen. Beim Anschlag in Kaiseraugst gingen sie zudem davon aus, dass die Polizei die Strassen absperren würde. Deshalb flüchteten die beiden mit dem Velo rund 20 oder 30 Kilometer über Feldwege. Unterwegs steckten sie die Kleider auf einem Picknickplatz in einen Abfalleimer und zündeten sie an, um die Spuren zu verwischen.

Als Basis für ihre Aktionen nahmen sie das Guerilla-Handbuch eines Schweizer Geheimdienstoffiziers zu Hilfe, «Der totale Widerstand – Kleinkriegsanleitung für Jedermann». Verfasst worden war es für den Fall einer Invasion durch die Sowjetunion. Benutzt wurde es von Bellini und seiner Gruppe für ihren illegalen Widerstand gegen den Bau von Atomkraftwerken.»

Wie die NZZ weiter ausführt, wuchs Giorgio Bellini (1945) in Bellinzona auf. Sein Vater war Strassenbau-Ingenieur beim kantonalen Tiefbauamt. Gegen den Willen der Eltern, die ihn gerne hätten studieren sehen, machte Bellini eine Lehre als Mechaniker. Schon als Jugendlicher las er Marx und Lenin, die Pfadigruppe funktionierte er in eine kommunistische Jugendbewegung um, man nannte sich «movimento giovanile progressista» und tat sich mit der Jungen Sektion der Partei der Arbeit zusammen. An den Gewerkschaften vorbei organisierte Bellinis Gruppe, jetzt unter dem Namen «lotta di classe», einen sechswöchigen Streik in der Bally-Schuhfabrik in Stabio. Sie sammelten so viel Geld, dass sie den streikenden Arbeiterinnen 60 Prozent ihres Lohnes zahlen konnten.

Das war 1970. Er zog vom Tessin nach Zürich, ins Zentrum des Kapitals, wie er einmal schrieb. Im Zürcher Kreis 4 fühlte sich Bellini wohl, in diesem Biotop von «linken» Restaurants und alternativen Wohngemeinschaften. Bellini sah sich als Autonomer mit dem Ziel, nur gerade so viel zu arbeiten, wie unbedingt nötig war. Geregelte Arbeit war verpönt, man hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, vielleicht eine Woche pro Monat. Daneben betrieb Bellini, zusammen mit einer Tessiner Kollegin, eine kleine Buchhandlung, Eco Libro. Die Adresse fand Eingang in manchen Geheimdienstbericht, auch im Ausland. Die Buchhandlung galt als verkappter Hort für revolutionäre Umsturzversuche. Was da aber wirklich alles vorging, lässt Bellini offen. In einem Aufsatz schrieb er einmal «Wir waren Faulenzer und machten tausend Sachen».

Im Umfeld der Anti-AKW-Bewegung ist es in den 1970er Jahren in der Schweiz immer wieder zu Sprengstoffanschlägen gekommen, die nicht aufgeklärt werden konnten. Die Serie umfasste über vierzig Anschläge, Personen kamen dabei keine zu Schaden. Auf dem Höhepunkt verübten die AKW-Saboteure, wie sie sich selbst nannten, im Jahr 1979 diesen Sprengstoffanschlag auf den Informationspavillon des geplanten Kernkraftwerks Kaiseraugst sowie auf den Arealen der KKW Leibstadt und Gösgen. Die klandestine Gruppierung «Do it yourself» bestand aus mehreren über die Schweiz verteilten Zellen, denen jeweils eine Handvoll Akteure angehörte. Giorgio Bellini ist der erste, der öffentlich ein Bekenntnis ablegt.

Die gesamte Untersuchung wurde von der Bundesanwaltschaft geführt, sie blieb ergebnislos. Die Taten sind alle verjährt, strafrechtlich können die Beteiligten nicht mehr belangt werden. Nach 42 Jahren bringt somit der 76-jährige Giorgio Bellini etwas Licht ins Dunkel des Sprengstoffanschlags auf den Info-Pavillon und gibt wichtige Hinweise, um das «Rätsel von Kaiseraugst» zu lösen.

Heute, über 40 Jahre später, befinden sich an Stelle des gesprengten Info-Pavillons und dem geplanten Kernkraftwerk moderne Gebäude mit attraktiven Arbeitsplätzen der Roche, DSM, Solvias und weiteren Unternehmen.

Die Reportage über die Geschichte von Giorgio Bellini erschien in der NZZ vom 15. Mai unter dem Titel: «Der bewegte Bombenleger aus dem Tessin». Sie wurde geschrieben von Marcel Gyr.


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote