Hinter dem Horizont

  22.12.2020 Fricktal, Tradition

Eine Weihnachtsgeschichte

Ronny Wittenwiler

Die Sonne versank im Ozean und in den Hafen kehrten die Fischer zurück. «Es ist in Ordnung, Angst zu haben», sagte der alte Mann. «Es ist in Ordnung, hörst du. Aber lasse die Angst niemals über deine Zuversicht siegen.»

Er machte grosse Augen und fragte: «Soll ich dir vom Piraten mit den zwei Holzbeinen erzählen?» Energisch schüttelte die Kleine mit dem Kopf. Sie mochte Grossvaters Geschichten, meisterhaft gab er sie zum Besten. Doch wieder einmal und wie so oft wollte das Mädchen nur die eine hören. Er selbst nannte es die Geschichte seines Lebens.

«War sie schön?» Voll froher Erwartung blickte die Kleine diesen bärtigen, alten Mann an. Sie wusste, was gleich kommen würde. «Schön? Ich bitte dich! Nie in meinem Leben hatte ich in schönere Augen geblickt.» Beinahe verlegen wie damals, und ohne ein Wort zu sagen, lächelte neben ihm eine ältere Frau. Die Kleine aber unterbrach die kurze Stille sofort und drückte den Alten: «Zum Glück hast du dich in Grossmutter verliebt. Mama hätte sonst Papa nie kennengelernt, ich wäre nie geboren worden und könnte morgen nicht mit dir rausfahren.» Er nickte: «Oh, ja. Ich bin damals gehörig vom Kurs abgekommen. Was Besseres konnte mir nicht passieren.»

Am anderen Tag sass er in seinem kleinen Boot und fuhr hinaus. Sie hat ihre Augen, dachte er und sah die Kleine lange an. An den Ufern schoss der Saft in die Bäume und an den Zweigen trieben die Knospen. Er war glücklich. Ein letzter Frühling.

«Erzählst du mir von Magellan?» Er wunderte sich. Seine Frau war an solchen Dingen nicht sonderlich interessiert. Wohl sah sie stets zu mit Genuss, wie er zuerst den eigenen Kindern, später den Kindeskindern von den grossen Seefahrern und ihren Träumen berichtete. Doch statt zu fragen, wozu, begann er nun zu erzählen: von den endlosen Weiten und den dunkelblauen Tiefen, von den Sternen am Himmelszelt; er erzählte von dieser Sehnsucht nach dem Ozean, von Kolumbus, von Magellan, und wie sie alle hiessen, die Eins wurden mit den Elementen.

Seiner Frau liefen Tränen über die Wangen, und er nahm sie in den Arm: «Alles ist gut.» Das Wissen über sein Sterben konnte sie kaum ertragen. Es sollte zwischen ihnen doch keinen Platz haben.

Das kleine Mädchen regte sich fürchterlich auf. «Nichts davon will ich hören.» Alle anderen waren still; die ganze Familie war da. Alle, die sich an diesem sonnigen Tag um ihn versammelt hatten, waren traurig. Nur die Kleine war ausser sich, trotzig. «Sommer, Grossvater! Es ist Sommer, hörst du. Wir fahren morgen da raus und du wirst nicht sterben.» Sie deutete durchs Fenster hinaus aufs Wasser. Es tue ihnen leid, hatten die Ärzte gesagt. Ob er an Weihnachten noch da sein werde, lasse sich nicht mit Gewissheit sagen. Jetzt wich auch bei dem Mädchen die Wut, es weinte und sagte leise: «Du darfst nicht sterben, Grossvater. Das darfst du nicht.»

Ein letzter Frühling. Ein letzter Sommer. Der Flug der Möwen, fallende Blätter, ein Sturm im Herbst, mit hochgehenden Wogen draussen an der Mole, und Segelschiffe, die wankten, wie ein Trinker, der sich nachts auf dem Nachhauseweg durch die engen Gassen kämpft. All das, wie so vieles – ein letztes Mal.

Und dann kam der Moment, als man über sein kleines Boot eine Plane legte. Es wurde abgedeckt. An einem Sonntag im November schloss der alte Mann für immer seine Augen. Er, der einst davon geträumt hatte, um die Welt zu segeln, begab sich auf seine letzte Reise.

Ihm zu Ehren legten sie Blumen dorthin, wo er am liebsten gewesen war.

Fortsetzung an Heiligabend in der NFZ


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