«Man nimmt sich oftmals zu wenig Zeit zum Zuhören»

  11.11.2020 Magden, Persönlich

Bäuerin und Mediatorin: Andrea Joss aus Magden

Andrea Joss hat viel erlebt und musste in den letzten Jahren einiges durchmachen. Aufgeben wäre für sie nie in Frage gekommen. In einer sehr schwierigen Phase ihres Lebens half ihr die Mediation.

Janine Tschopp

Sie wirkt völlig entspannt und scheint angekommen zu sein. Andrea Joss lebt mit ihrer Familie und ihren Tieren auf dem Zelglihof, zirka zwei Kilometer vom Dorfkern Magden entfernt. Man spürt, hier auf dem Hof fühlt sie sich wohl. Das Umfeld stimmt, und es passt für sie, hier zu sein.

Das war nicht immer so. Von 1996 bis 2011 lebte sie schon einmal auf dem Zelglihof. «Wir hatten gute Zeiten, aber auch anstrengende Zeiten. Oftmals arbeiteten wir 17 Stunden an sieben Tagen pro Woche. Wir sind alle ‹auf dem Zahnfleisch gelaufen›», schildert Andrea Joss. Sie führte den Hof mit ihrem damaligen Ehemann. Als zweites Standbein baute sie sich eine Hofbäckerei auf, welche so gut lief, dass sie 13 Mitarbeitenden eine Stelle bieten konnte.

Ihre drei gemeinsamen Kinder sowie die Schwiegereltern lebten ebenfalls auf dem Hof. Im Laufe der Jahre kam es immer öfter zu Generationenkonf likten, aber auch zu anderen Auseinandersetzungen. Das Zusammenleben wurde immer schwieriger und wirkte sich auch auf die Ehe aus. 2011 erlitt Andrea Joss ein Burnout und verliess ihren Mann und den Hof. Sie zog in eine Wohnung nach Kaiseraugst, und die drei Kinder folgten ihr. Anschliessend begann eine mehrjährige Scheidung.

Mit dem Verlassen des Hofs hatte Andrea Joss 2011 auf einen Schlag fast alles verloren: Ehemann, Schwiegereltern, Bauernhof, Tiere, Zuhause, Hofbäckerei und Job.

Ausbildung zur Sachbearbeiterin Treuhand und Mediatorin
Während der Scheidung steckte Andrea Joss den Kopf nicht in den Sand, sondern versuchte sich mit verschiedenen Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten. Zudem liess sie sich zur Sachbearbeiterin Treuhand ausbilden. Anschliessend absolvierte sie ein Studium als Mediatorin an der Fachhochschule Nordwestschweiz, dass sie 2018 erfolgreich abschloss. «Mein Anwalt, der mich bei der Scheidung unterstützte, meinte, ich hätte die Fähigkeit dazu.»

Sie hatte ihr Leben wieder soweit organisiert und verdiente ihr eigenes Geld bei geregelten Arbeitszeiten. Die Kinder waren selbständig. Zusammen mit ihrem Lebenspartner kaufte sie ein Wohnmobil und sie beschlossen, neben ihrer Arbeit ein bisschen Freiheit und das Leben zu geniessen. Dann kam alles anders. «Im Oktober 2019 verstarb ‹Papa›». «Papa», sie meint ihren Ex-Mann und den Vater ihrer drei Kinder, verstarb ziemlich unerwartet. Einmal mehr wusste Andrea Joss vorerst nicht, wie es weitergehen sollte. «Sein Tod hat meine Pläne völlig über den Haufen geworfen.»

Sie musste ihr Leben neu organisieren
Ihr verstorbener Ex-Mann hinterliess nicht nur die drei gemeinsamen Kinder, sondern auch einen Hof mit 37 Hektaren Land, 15 Rindern und drei Angestellten. Andrea Joss musste von einem Moment auf den anderen ihr Leben neu organisieren. Sie suchte den für ihre Kinder besten Weg und beschloss, als Betriebsleiterin auf den Hof, der seit «Papas» Tod den drei Kindern gehört, zu ziehen. Da zwei ihrer drei Kinder die Ausbildung zum Landwirt absolvieren, ist es naheliegend, dass sie später den Hof übernehmen werden. So ist sie seit dem 1. Januar 2020 Pächterin des Zelglihofs. Im letzten schwierigen Jahr erhielt sie sehr viel Unterstützung. Einerseits haben ihre drei Kinder sowie ihre Eltern und ihr Partner heftig angepackt. «Stark unterstützt werde ich auch von einem Bauern aus Magden und von einigen anderen Berufskollegen aus meinem Umfeld sowie von der Familie meiner Schwägerin», sagt Andrea Joss. Sie lebte zwar bereits von 1996 bis 2011 auf dem Hof, hatte aber mit den Kindern und der Hofbäckerei ihre eigenen Aufgaben. So musste sie in den letzten Monaten viel Neues lernen.

Im Gespräch wird aber klar, dass ihr die landwirtschaftliche Arbeit gefällt, und sie, bevor sie letztes Jahr wieder auf den Hof zog, auch einiges vermisste. Insbesondere die Tiere.

Mediation half
Als Andrea Joss letztes Jahr auf den Hof zurückkam, galt es einerseits sehr viel Arbeit zu bewältigen. Dann waren da immer noch die Konflikte mit der Familie ihres verstorbenen Mannes. Mit Hilfe ihres Buchhalters, welcher mediativ wirkte, fanden sie einen Weg, der für alle passte. Sie versöhnte sich mit ihrem Schwiegervater und ihrer Schwägerin. «Heute habe ich den besten Schwiegervater der Welt.»

Andrea Joss ist an durchschnittlich zwei Tagen pro Woche als Mediatorin tätig. Ihre Hauptthemen sind Hofkonflikte und Partnerschaften. Warum kommt es überhaupt zu solchen Konflikten, die nur mit Hilfe eines Aussenstehenden gelöst werden können? «Es sprechen zwar alle die gleiche Sprache, und trotzdem versteht man sich nicht», erklärt die Mediatorin. Ein Hauptproblem sei, dass die Menschen, die zusammenleben, oftmals nicht nachfragen «Wie hast Du das genau gemeint?». Stattdessen trifft man Annahmen, was der andere gerade denkt. «Leider nimmt man sich im Alltag oftmals zu wenig Zeit zum Zuhören und fürs Gespräch.» Bei der Mediation gehe es um Lösungen. Nicht darum, wer Recht habe und wer nicht.

Als Ausgleich zur Mediation hat Andrea Joss die Arbeit auf dem Hof. «In der Natur und mit den Tieren finde ich Ruhe. Die Kombination ist sehr befriedigend.» Im kleinen Rahmen betreibt sie zudem eine Hofbäckerei und beliefert ein paar Läden in der Region. Auch absolviert sie derzeit eine einjährige landwirtschaftliche Ausbildung (Direktzahlungskurs) und unterrichtet an der Landwirtschaftsschule die Themen, die sie am eigenen Leib erfahren hat: Burnout, Konflikte und Mediation.

Die 49-Jährige hatte es in den vergangenen Jahren oftmals alles andere als leicht. Ein starker Durchhaltewille und viel harte Arbeit hat sie dorthin geführt, wo sie jetzt ist. Auf die Frage, ob sie jetzt glücklich ist, kommt von ihr eine schnelle und eindeutige Antwort: «Sehr.»


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