Nächtliche Fluggäste

Susanne Hörth

«Fliegen Fledermäuse eigentlich auch tagsüber», fragte mich kürzlich mein Enkel und blickte gegen den Himmel. Was er da sah, war nicht das, was er zu sehen meinte. Denn nicht solch beflügelte Mäuse, sondern Schwalben waren es, die in blitzschnellen Wendemanövern Insekten nachjagten. Es war kurz elf Uhr morgens. Die nächste Frage des Bubens erinnerte mich dann an einen, viele Jahre zurückliegenden Vorfall. «Fliegen Fledermäuse nachts auch durch offene Fenster in die Häuser?» Wüsste ich es nicht besser, hätte ich gerne mit einem Nein geantwortet. Aber da war eben die Erinnerung an eine lauwarme Sommernacht mit grossen, geöffneten Fenstern. Meine Kinder – sie waren damals noch klein – begannen plötzlich in ihren Betten zu schreien. Sie liefen mir aus ihren Zimmern entgegen, klammerten sich an mich. Etwas Furchtbares befinde sich in der Wohnung, flüsterten sie aufgeregt. Ich machte überall die Lichter an. Dann schoss es an uns vorbei. Immer und immer wieder. Wir flüchteten unter den Tisch. Die Kinder drängten sich hinter mir in die hinterste Ecke. Ich nahm allen Mut zusammen, kroch nach vorne, erstarrte in der Bewegung. Es flitzte an mir vorbei, dann ein zweites und ein drittes Mal. Hat es mich berührt? Eine Gänsehaut überzog mich. Dann nach langen Minuten landete eines der unheimlichen Wesen an der Wand. Die kleine Fledermaus war mit angezogenen Flügeln keine fünf Zentimeter gross. Ihre beiden Artgenossen, die sich nach dem Lichterlöschen auch in der Nähe niederliessen, waren sogar noch kleiner. Die hatten vor uns wahrscheinlich weit mehr Angst als wir vor ihnen. Nachdem die graubraunen Flügelwesen endlich wieder den Weg in die dunkle Nacht hinausgefunden hatten, gingen wir alle mit einem befreiten Lachen wieder zu Bett. «Machst Du bitte alle Fenster zu», flüsterte eine müde Bubenstimme kurz vor dem Einschlafen.