Der tägliche Gang der Zuversicht

  20.05.2020 Möhlin

Ronny Wittenwiler

«Gott ist nicht weg»

Ein Telefongespräch mit dem Seelsorger

Da hilft nur noch beten? «Immerhin», findet Christian Edringer: «da hilft noch beten!». Der christkatholische Pfarrer aus Möhlin über die Hoffnung, den Glauben und die Wissenschaft. In Zeiten von Corona.

Ronny Wittenwiler

NFZ: Christian Edringer, gerne würde ich Sie fragen, wo der liebe Gott in den letzten Wochen war. Ist Ihnen das zu banal?
Christian Edringer:
Bei den Gesprächen in den letzten Wochen sagten viele Menschen zu mir: Ich bin froh, dass ich an Gott glauben kann, sonst wäre ich noch einsamer. Solche Worte berühren mich sehr. Sie zeugen von Glauben und Vertrauen und haben in Zeiten der Isolation, in Zeiten, in denen Menschen krank sind und sogar sterben, etwas unwahrscheinlich Tragendes. Die Frage ist mir also gar nicht zu banal. Und meine Antwort lautet: Gott ist nicht weg. Er ist bei denen, die es jetzt schwer haben.

Verlassen wir uns in einer Krise stärker auf den Glauben als sonst?
Krisen bringen uns Fragen, die wir uns im routinierten Alltag so nicht stellen. Was ist mir wichtig? Woran hänge ich mein Herz? Das sind zunächst Dinge, die ich nicht kaufen kann. Das Gespür dafür, dass es etwas Wichtigeres gibt als das rein Materielle, wird in Krisen sensibler. Solche Fragen bringen uns auch im religiösen Sinn zum Nachdenken.

Inwiefern?
Es ist eine Dynamik des Glaubens und der Zuversicht, wie sie in der Bibel vorkommt, die ich gerne auf das Jetzt übertrage: Nicht, weil wir eine Krise haben, wird das Leben besser, wenn wir umkehren, sondern obwohl wir eine Krise haben, wird das Leben besser, wenn wir umkehren. Gott gibt uns immer die Chance, das Leben neu zu beginnen. Umkehr als Chance, nicht aus einer Angst heraus.

Erzählen Sie.
Im Mittelalter wurden Krankheiten als Strafe Gottes angesehen. Eine Prozession oder liturgische Dinge waren in erster Linie dafür da, das Volk zur Umkehr zu bewegen, damit sich Gott wieder besänftigt. Dieses Gottesbild habe ich nicht und das haben heute die meisten von uns nicht. Corona als Strafe Gottes? Da stellen sich mir die Nackenhaare auf. Ich kann an keinen Gott glauben, der so mit mir und den Menschen umgeht.

Sie können das nicht glauben – auch, weil Sie wissen?
Das Wissen, das wir haben, auch medizinisch-wissenschaftlich, lässt uns heute ganz anders sehen. Wir können sagen, das ist ein Virus mit einem gewissen Zellaufbau und so weiter. Wir können anders mit den Dingen umgehen, die uns in der Welt umgeben.

Hat es neben so viel Wissen noch Platz für den Glauben?
Es gibt Leute, die sagen: Ich kann die Welt von heute erklären, ich brauche keinen Gott mehr. Das glaube ich nicht. Der wissenschaftliche Fortschritt ist kein Widerspruch zum Glauben. Beides gehört zum Menschsein dazu. Wer sagt, da hilft nur noch beten, meint meistens, man kann nichts mehr machen. Das klingt so schicksalshaft. Ich sage: Hey, seid froh – da hilft noch beten! Wenn alles andere nicht mehr geht, haben wir noch etwas, woran wir uns festhalten können. Der Glaube schenkt den Menschen Mut und gibt ihnen Kraft, was wiederum die Geduld und die Gelassenheit fördert. Das brauchen wir in solchen Zeiten.

Warum kommt es gut?
Weil Geduld und Gelassenheit uns vertrauen lassen. Vertrauen in die Menschen, die an entscheidenden Stellen sitzen. Vertrauen in die Wissenschaft, darauf, dass es eines Tages eine Impfung gibt.

Glaube trifft auf Wissenschaft?
Ich glaube an die Kreativität des Menschen, von der ich wiederum glaube, dass das eine Gabe Gottes ist. Der persönliche Glaube der Menschen setzt unheimliche Kräfte frei. Ein Schriftsteller sagte einmal: Wenn du glauben kannst, hast du noch Atem über die nächste Wegbiegung hinaus, obwohl du nicht weisst, was da noch kommt.

Wie erleben Sie die aktuelle Situation als Pfarrer?
Die Situation ist eine angespannte für uns alle. Die Art, miteinander zu arbeiten, hat sich in der Kirchgemeinde verändert. Wir versuchen aber weiterhin, eine gewisse Nähe zu den Menschen herzustellen. Ich selbst bin jederzeit erreichbar und ich rufe aktiv viele Leute an: Menschen ab 65 und vor allem jene, von denen ich weiss, dass sie allein sind.

Diese Leute machen sich Sorgen?
Viele sind verwitwet, leben seit Jahren allein. An ihrem Rhythmus zuhause hat sich nichts geändert. Die Tatsache, dass sie zur Risikogruppe gehören und dass sie sich helfen lassen sollten, löst aber Unsicherheit aus.

Wie zeigt sich das?
Ich habe Leute am Telefon, die mir sagen: Ich will nicht beatmet werden. Sie hätten das so verfügt. Sie seien in einem Alter, in dem ihnen das alles zu viel würde. Ich bin manchmal erstaunt, wie gelassen sie das Thema Krankheit und Tod aufgreifen. Zu schaffen macht ihnen vielmehr die Einsamkeit. Die fehlende soziale Nähe.

Die Kirche steht derzeit «sperrangelweit» offen. Ist das eine Botschaft?
Wir brauchen jetzt Orte, an denen die Menschen sitzen können, eine Art Zufluchtsort. Deshalb haben wir beschlossen, sie zu öffnen. Ich hätte nie gedacht, dass den Menschen nur schon eine offene Kirche so viel Mut macht. Egal wer kommt, alle sind willkommen. Da spielt auch die Konfession keine Rolle. Das ist die Botschaft.

Und niemand muss die Türklinke anfassen.
Das ist der hygienische Hintergrund.

Eine Erkenntnis aus der Wissenschaft.
Stimmt. Da haben wir es wieder. Wissenschaft hat auch an einem Ort des Glaubens ihren Platz (lacht). Das zeigt sich übrigens auch in der Diskussion, wann wir wieder Gottesdienste feiern sollen.

Inwiefern?
Natürlich möchte ich Gottesdienste feiern. Wir als Kirche tragen aber auch Verantwortung für jene, die wir einladen. Wenn wir sehen, wen wir vorrangig in der Kirche zu Besuch haben, dann sind das viele Personen der Risikogruppe. Es gab zu Beginn der Corona-Krise diesen Fall, wo sich in einer französischen Freikirche viele Menschen infiziert hatten. In Interviews sagten Menschen: Nein, im Gottesdienst infiziert man sich nicht, Gott schützt uns. Das ist mir zu naiv. Gott schützt uns, ja – aber er entbindet uns nicht von unserer Eigenverantwortung.

Worauf freuen Sie sich auf die Zeit nach Corona?
Dass wir die sozialen Kontakte wieder anders leben und den Wert des Gemeinschaftlichen pflegen können. Keine Gottesdienste feiern zu können, ist einschneidend und schmerzhaft. Auch für mich als Pfarrer. Ich habe das so in meinem Leben noch nie erlebt.

Gemeinschaft ist keine Selbstverständlichkeit?
Ich glaube, dass wir sie neu wertschätzen können. Nach Corona wird es noch viel zu erzählen und zu reden geben, auch aufzuarbeiten, vielleicht in Predigten. Es wird Menschen geben, die ein Trauma davon tragen, weil sie einsam waren. Da müssen wir sensibel sein für das, was da noch kommen wird an menschlichen Baustellen. Aber ich freue mich darauf, wenn es wieder gemeinsam weitergeht. Gemeinsam können wir das bewältigen.

Das Leben ist schön?
Ja, das ist es. Auf jeden Fall.


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