«Endlich habe ich jemanden gefunden, der mich versteht»

  05.04.2020 Rheinfelden

Der Verein Lichen Sclerosus half Andrea Ammann

Seit gut zwei Jahren ist Andrea Ammann Leiterin einer Selbsthilfegruppe des Rheinfelder Vereins Lichen Sclerosus. Bei dieser Krankheit handelt es sich um eine weit verbreitete, jedoch kaum bekannte und stark tabuisierte Hauterkrankung des Intimbereichs.

Birke Luu

Viele Vereine haben Nachwuchsprobleme. Der Verein Lichen Sclerosus hingegen wächst und wächst. Leider könnte man eigentlich sagen, denn bei den Mitgliedern handelt es sich um Betroffene, zumeist Frauen, einer weit verbreiteten, doch oft verkannten chronischen Erkrankung des äusseren Genitalbereichs. Das Tabu um die Krankheit ist gross, die Selbsthilfe- und Aufklärungsarbeit des Vereins deshalb umso wichtiger. Andrea Ammann gehört dem Verein erst seit 2018 an, übernahm jedoch schon kurz nach ihrem Eintritt die Leitung der Austauschgruppe Regio Basiliensis, zu der auch das Fricktal gehört. Warum? Weil sie einfach so unheimlich froh war, diesen Verein gefunden zu haben.

Ärztetortour
Zwanzig Jahre lang stand sie nämlich alleine da, «tortourte» von Gynäkologe zu Gynäkologe, ohne dass deren Anti-Pilz-Behandlungen etwas halfen. «Zeitweise hatte ich ein solch immenses Jucken im Intimbereich, dass ich nicht mehr wusste wie sitzen, das war zum Verzweifeln», erzählt die Rheinfelderin. Auch Symptome wie Brennen und Schmerzen wie bei Blaseninfekten gehörten zum Alltag. Erst 2017 erhielt sie dann endlich die Diagnose «Lichen Sclerosus» (LS) – äh, wie bitte? Sofort suchte sie nach Informationen im Internet und stiess auf den gleichnamigen Verein. Ohne Zögern wurde sie Mitglied: «Mir fiel vor Erleichterung ein Stein vom Herzen. Nach 20 Jahren Suche war da ein Verein, der mir helfen konnte, wo ich mich austauschen und mit anderen Betroffenen treffen konnte.» Gleich durch ihren ersten Kontakt erhielt sie die lange gesuchten Antworten, gute Erklärungen sowie praktische Informationen. Sowohl die Homepage als auch die speziellen Mitgliederseiten halfen ihr weiter, vor allem aber der erste Austausch-Treff bleibt Andrea Ammann in deutlicher Erinnerung: «Das Treffen war super. Die Leiterin hat mir mit ihren Alltags-Tipps wirklich sehr geholfen!» Dabei ist der 43-Jährigen bewusst, dass sie selbst nur eine leichte Form von LS hat. Bei anderen Betroffenen degeneriert die Haut im äusseren Genitalbereich schubförmig immer stärker, reisst ein, vernarbt, macht Geschlechtsverkehr unmöglich. Letztendlich können operative Eingriffe notwendig werden.

Neue Lebensqualität
Heute, zwei Jahre nach Diagnose und wirksamem Therapiebeginn durch hochpotente Kortison- und Pflegesalben, ist Andrea Ammann nahezu beschwerdefrei. Eine Heilung gibt es bei d ieser ch ron i schen Autoi mmunkrankheit zwar nicht, aber ihre Einschränkungen halten sich dank konsequenter Therapie in Grenzen: «Ein grosser Stressfaktor ist nun einfach weg, auch wenn ich um meine Lieblings-Jeans trauere, die ich leider nicht mehr tragen kann, weil sie scheuern. Aber Röcke finde ich inzwischen auch toll», lacht sie. Ihre Lebensqualität sei heute wieder fast ganz normal, wobei die spezielle Hautpflege so wie das Zähneputzen eben mit dazu gehöre. Inzwischen ist sie im Verein aktiv, um selbst anderen Betroffenen zu helfen. «Ich möchte mein Wissen den anderen weitergeben, so dass sie sich in ihrem Körper auch wieder wohler fühlen, und damit sie merken, sie sind nicht allein.» Immer wieder bekommt sie Rückmeldungen von erleichterten Menschen, die dank ihrer Beratung wissen, wo sie stehen und sich wie Andrea Ammann einfach freuen: «Endlich habe ich jemanden gefunden, der mich versteht!»

Tabuisiert, verkannt und unerkannt
Das Hauptproblem an LS ist tatsächlich, dass die Krankheit selbst unter Fachleuten weitgehend unbekannt ist, obwohl jede 50. Frau betroffen ist. «Mir wäre viel erspart geblieben, wenn Lichen bekannter wäre», meint Andrea Ammann im Rückblick. Sie sei nur zu Gynäkologen gegangen und nicht auf die Idee gekommen, dass sie an einer Hautkrankheit leide. Viele Hautärzte würden LS erkennen, jedoch würde man diese bei Beschwerden im Schritt nicht aufsuchen. Daher habe sich der Verein zum Ziel gemacht, Gynäkologen und andere Anlaufstellen wie Apotheken zu sensibilisieren. «Wenn man mehr als drei- bis viermal im Jahr wegen eines vermeintlichen Pilzes beim Arzt oder Apotheker ist, dann müssten diese hellhörig werden und auf LS hinweisen», erklärt die Mutter einer Tochter. Letzteres ist relevant, da die Krankheit vererbbar ist.

Wichtige Öffentlichkeitsarbeit
Andrea Ammann geht ganz offen mit ihrer Diagnose um – in der Familie, im Austausch mit anderen Betroffenen wie nun auch in der Öffentlichkeit. «Ja, es braucht viel Mut, um über solche Geschichten im Intimbereich zu sprechen. Auch wenn man normalerweise nicht gern über so etwas redet, ist dies umso wichtiger, damit die Erkrankung bekannter wird», meint sie eindringlich. Man kenne sie und ihre Familie in Rheinfelden, sicher werde sie nun darauf angesprochen, aber: «Ich bin einfach nur froh, dass es diesen Verein gibt. Ich möchte, dass er bekannter wird, damit auch andere Betroffene Hilfe bekommen.» Aus diesem Grund rät sie auch allen Fricktalern, insbesondere den Fricktalerinnen jeden Alters, denn auch Kinder können schon betroffen sein: «Scheut euch nicht, euren Arzt auf Lichen Sclerosus anzusprechen. Und wenn er nicht darauf eingeht, geht zum Hautarzt oder auf die Vereins-Homepage.»

Bald feiert der gemeinnützige Rheinfelder Verein, der inzwischen auch europaweit tätig ist, sein siebenjähriges Bestehen. Für seine Pionierarbeit in der Auf klärung von Bevölkerung und medizinischen Fachkreisen wurde er letztes Jahr mit dem Aargauer Rotkreuzpreis ausgezeichnet. Auch der Soroptimist Club Fricktal unterstützt das Vereinsanliegen. Es ist unbestritten, der Verein wächst und wächst. Leider? Nein, glücklicherweise, denn dies bedeutet, dass die Vereinsarbeit Früchte trägt, die so lange verkannte Hautkrankheit bekannter wird und Betroffene die, oftmals sehnlich gesuchte «Hilfe zur Selbsthilfe» bekommen. Andrea Ammann ist dabei eine von denen, die dies mutig unterstützen und der Krankheit ein Gesicht geben. Das ist engagierte Solidarität, nicht nur für drei Monate, sondern viel langfristiger.

www.lichensclerosus.ch


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