Weiter Weg zurück in die Normalität

  31.03.2020 Nordwestschweiz

Grosse kulturelle Unterschiede in der Bekämpfung der Pandemie

Zum Schutz der Bevölkerung vor dem Coronavirus ergreifen viele Länder drastische Massnahmen. Für den Sissacher Immunologen und China-House-Leiter Xian Chu Kong kam die Ausbreitung der Epidemie nach Europa nicht überraschend. Vom Ausmass und von der Dynamik jedoch wurde auch er überrollt.

Sander van Riemsdijk – Volksstimme Sissach

Herr Kong, Sie haben im Januar bereits vor der Gefährlichkeit des Coronavirus gewarnt. Haben Sie damit gerechnet, dass die Seuche sich auch bei uns ausbreiten würde – in einem derart verheerenden Ausmass?
Xian Chu Kong:
Dass sie sich ausbreitet, ja, aber nicht so gravierend. Es war zu erwarten, weil wir es einfach nicht wahrhaben wollten, dass das Virus zu uns kommt und wir schlicht nicht die richtigen Massnahmen getroffen haben, um dies zu verhindern. Wir hätten so reagieren sollen wie China: bei Menschen, die ins Land einreisen möchten, die Körpertemperatur messen und sie 14 Tage lang unter Quarantäne setzen. Als die Seuche in China bereits ausgebrochen war, konnten die Menschen noch ohne Einschränkung oder Kontrolle in die Schweiz einreisen.

Italien war das erste Land in Europa, das den Flugverkehr nach China aussetzte. Trotzdem leidet Norditalien im Vergleich zu anderen Ländern am meisten unter der Seuche. Worauf ist dies zurückzuführen?
In Norditalien lebt eine grosse chinesische Kommune. Als das Flugreiseverbot nach Italien ausgesprochen wurde, reisten die Chinesen via Schweiz oder Deutschland, die den Flugverkehr nicht ausgesetzt hatten, nach Italien. Darum überrascht es mich nicht, dass gerade dort die schlimmsten Ausbrüche sind.

Wie schätzen Sie die momentane Situation in China ein?
Die dortige Situation schätze ich aus persönlicher Sicht als labil ein. Die Menschen sind zwar gegen die Krankheit geschützt worden, aber gegen das Virus nicht immun geworden. Dies bedeutet, dass sie jeden Moment wieder angesteckt werden können. Zurzeit suchen viele Chinesen, die hier arbeiten und studieren oder vor dem Ausbruch der Seuche in China hierher gef lüchtet sind, wieder Zuf lucht in ihrer Heimat. Problematisch wird es, wenn sie das Virus wieder nach China bringen, wo die Menschen nicht «durchimmunisiert» wurden. Dann könnte eine zweite Welle kommen.

Und in der Schweiz beziehungsweise in Europa?
Die Lage ist ernst. Die grösste Gefahr, die wir hier aufgrund der steigenden Anzahl Infizierter haben, ist die medizinische Überbeanspruchung. Die Schweiz ist zwar in einer schlimmen, aber sicher nicht ausweglosen Situation.

Welche Möglichkeiten gibt es, um die Ausbreitung des Coronavirus in den Griff zu bekommen?
Während einer Pandemie dieser Dimension ist es schlichtweg nicht möglich, das Virus fernzuhalten. Meines Erachtens gibt es nur zwei Lösungen, die beide eine aktive Immunisierung voraussetzen: durch direkten Kontakt mit dem Virus oder einen Impfstoff.

Haben Sie dann Verständnis für die Massnahmen des Bundesrats, der uns gerade vor einer Ansteckung, also dem direkten Kontakt, schützen möchte?
Ja. Der Bundesrat sagt: Wir schützen euch, damit ihr nicht angesteckt werdet. An und für sich ein vernünftiger Schritt, damit die Zahl der Infizierten nicht explodiert. Das Virus befällt ältere Menschen mit einem schwächeren Immunsystem. Diese gilt es zu schützen. Bei Kindern oder Jugendlichen mit einem intakten Immunsystem ist dies unproblematisch und der direkte Kontakt mit dem Virus wäre bedenkenlos. Aber einen Impfstoff zu haben, ist immer noch besser.

Wäre ein Ausgehverbot wie in China für alle Menschen und hier in der  Schweiz für ältere Menschen über 65, wie erwogen wird, eine sinnvolle Massnahme?
Auf jeden Fall. In China gilt für die Anzahl Infizierter nur die Null. Also alle zu Hause bleiben. Wir in der Schweiz versuchen, die steigende Kurve bei den Infizierten abzuflachen, also sollten die über 65-Jährigen nicht auf die Strasse gehen. Es gibt in diesem Zusammenhang einen grundsätzlich verschiedenen Bezug zum Staat. In der Schweiz wird durch den Bundesrat transparent informiert. Die Menschen bringen ihre Ansichten ein und hinterfragen die Massnahmen. In China kommuniziert die Regierung nicht, sondern handelt. Dies wird von der Bevölkerung ohne Missbilligung akzeptiert und befolgt.

Wo gibt es in China Stolpersteine für den Weg zurück in die Normalität?
Der grösste Stolperstein droht effektiv dann, wenn in Europa die Bevölkerung «durchimmunisiert» worden ist und diese Menschen nach China einreisen wollen. Die Chinesen möchten den Kontakt zu den Europäern und zu den anderen Ländern vermeiden, damit keine zweite Welle folgt. Aber in unserer globalisierten Welt ist dies schlicht unmöglich. Die Seuche würde folglich ohne Impfstoff in China sofort wieder ausbrechen. Die Situation ist dort wirklich sehr labil.

Was können wir aus den Erfahrungen lernen, die in China gemacht worden sind?
Schwierig zu sagen, weil die Zielsetzungen im Kampf gegen die Seuche total verschieden sind. Aus kultureller Sicht vielleicht, dass die menschliche Wärme und der Respekt vor den älteren Menschen in China in vielerlei Hinsicht deutlicher zu spüren ist als bei uns. Ein wichtiger Punkt ist, dass die Chinesen in ihrer tausendjährigen Tradition immer prophylaktische Massnahmen gegen solche Krankheiten vorgenommen haben. Nicht gegen die Viren, das geht ja nicht, aber gegen die Symptome. Sie haben gelernt, mit Seuchen umzugehen, und haben in ihrem disziplinierten Verhalten und in der Ernährung stets versucht, das Immunsystem zu stärken und die Symptome zu lindern. In der traditionellen chinesischen Medizin gibt es dafür viele Rezepturen.

Haben wir aus Ihrer Sicht als Neurobiologe in der Bekämpfung der Krankheit vielleicht etwas übersehen?
Wir sollten mehr Geld in die wissenschaftliche Forschung stecken. Für mich stellt sich die Frage, warum das Virus bei Kindern keine und bei Frauen weniger Symptome zeigt. Das Immunsystem ist bei Kindern viel aktiver als bei Erwachsenen. Woher kommt diese Aktivität? Wir müssen unser Immunsystem gegen künftige Epidemien wappnen. Daher stellt sich die Frage, was es braucht, damit wir das Immunsystem modifizieren und so stärken können, dass sich die schlimme Lage, wie sich diese jetzt präsentiert, nicht wiederholt. Ich möchte den Menschen hier Mut zusprechen. Bald ist Ostern, das Fest der Auferstehung. Ich bin auch als Nicht-Christ überzeugt, dass nach Ostern eine Zeit von Zuversicht anbrechen wird und wir bald diese schlimme Zeit überwunden haben werden.


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