Gedanken zur geschlossenen Grenze

  31.03.2020 Stein

Meine Nachbarn… Erinnerungen eines Steiners

von Roman Aerni

Ich bin in Stein aufgewachsen. Das Schild am Bahnhof präzisiert: Stein (Säckingen). Dies, um zu verhindern, dass wir mit dem Stein in Appenzell Ausserrhoden verwechselt werden oder noch schlimmer, mit Stein am Rhein. Als Kinder haben wir uns immer einen Spass daraus gemacht, dass wir verirrten Touristen erklären konnten: ja, das ist der Rhein, und ja, unser Ort heisst Stein, aber leider sind Sie trotzdem nicht in Stein am Rhein, das ist ca. 90 km östlich. Unser Ort grenzt sich also mit Säckingen ab. Säckingen – das Tor zum Südschwarzwald. Ich habe nicht recherchiert, denke aber, Stein ist der einzige Ort in der Schweiz, welcher sich mit einer Stadt aus dem Schwarzwald zu präzisieren versucht.

Ich habe das aber noch extremer erlebt. Stein hatte zu meiner Jugend 1866 Einwohner, davon 1006 weiblich. Also ein Dorf. Säckingen war auch zu dieser Zeit keine Grossstadt (vielleicht 10 000 Einwohner), es war aber logisch, dass wenn man in Stein was nicht finden konnte, in «die Stadt» einkaufen ging. Stein hat heute noch kein Schwimmbad. Als Kinder liebten wir das Waldbad in Säckingen nicht nur wegen seiner grosszügigen Schwimmbecken, sondern auch wegen der Möglichkeit, für 50 Pfennige am Kiosk Süssigkeiten zu erstehen, welche so am schweizerischen Kiosk nicht zu haben waren.

Apropos Pfennige, Stein hat wie fast das ganze Fricktal lange zum Besitztum des «Damenstifts» (Klosters) Säckingen gehört, das Wirtschaftsleben war also direkt nach Säckingen ausgerichtet. Politisch hat dann Napoleon einfach eine Grenze gezogen, mitten zwischen den Chefinnen des Klosters und den Untertanen in Stein, als das Fricktal der neuen Helvetischen Republik zugeschlagen wurde. Einen Strich auf der Karte ziehen ist das eine, Praxis das andere. Die ganz alten Bewohner ( ja, die habe ich noch erlebt) von Stein haben mir erzählt, dass 1910 in den Restaurants in Stein Rechnungen noch in Reichsmark beglichen wurden. Dann kamen für Stein und für die Beziehung zu Säckingen die zwei wirklich einschneidenden Ereignisse: der erste und der zweite Weltkrieg. Der Verkehr zwischen den Nachbarn wurde während den Kriegszeiten eingeschränkt, man hat sich irgendwie distanziert. Die Nachbarschaftshilfe funktionierte aber trotzdem noch, so haben Fricktaler Gemeinden in den Jahren 1946 bis 948 grosszügig Nahrungsmittel vor allem für Kinder gespendet.

Gut erinnern mag ich mich an die jeweiligen «Grenzübertritte» als Kind. Uns war schon bewusst, da ist eine Grenze, aber dies wurde uns nur gelegentlich auf deutscher Seite bewusst. Die Schweizer Grenzbeamten haben ja alle im Dorf gewohnt, man hat sich gekannt und mehr über die Familie bzw. wie geht’s unterhalten, als offizielle Fragen zu stellen. Auf deutscher Seite waren die Beamten von Irgendwo, also eben dann Grenzbeamte, die gelegentlich nach einem Ausweis gefragt haben. In solchen Momenten war dann klar, die Grenze ist halt doch existent. Es gab aber Freiräume, z. B. die Fridolinsinsel im Rhein, welche als Naturschutzbereich eigentlich tabu war, wir als Kinder liebten es aber, dort vor allem am Südende beim Rheinschwimmen einen Halt einzulegen. Dieses Inselchen, entstanden durch den Kraftwerksbau 1961–66, wurde erst 2013 zu deutschem Gebiet erklärt, zu meiner Kindheit war dieses Stück Land also so was wie gemeinsames Territorium .

Etwa im Jahr 2012 hat dann der schweizerische und südbadische Handballverband beschlossen, eine gemeinsame Meisterschaft in den unteren Ligen durchzuführen. Das war echt toll, konnten wir so mit unseren Nachbarn nicht nur während der Arbeit bei der Ciba oder Novartis Zeit verbringen, sondern auch einem Hobby zusammen frönen.

2020 mit Corona ist nun wieder alles anders. Grenze ist Grenze und zu. Ich könnte (mach es aber nicht) zwar problemlos ins 200 km entfernte Brig reisen, darf aber nicht mehr ins 9 km entfernte Grenzach, unsere direkte Nachbargemeinde auf der anderen Seite des Rheins. (Ich wohne heute in Muttenz). Es entstehen lange Staus an der Grenze, wo Grenzbeamte und in der Schweiz sogar Militärpolizei all abweisen, welche keinen triftigen Grund haben, zu den Nachbarn zu reisen. Schlimmer noch als diese Reisesperre, welcher zurzeit ja auch freiwillig einzuhalten wäre, ist der gefühlte Umstand, dass sich unsere Behörden im Notfall mässig absprechen (anstelle notfallmässig) oder nur unter Druck gegenseitige Nachbarschaftshilfe zusichern. Spitalplätze, Personal, Schutzausrüstung wären Punkte, bei welchen man sich «unter Nachbarn» eigentlich helfen sollte. Dieser Umstand stimmt mich traurig, weil der Oberrhein eigentlich meine Heimat ist und nicht durch einen Grenzstrich getrennt werden sollte, am wenigsten dann, wenn sich gegenseitige Hilfe am meisten aufdrängen würde. Vielleicht haben wir nach dieser Krise wieder Zeit uns daran zu erinnern, dass wir direkte Nachbarn sind und auf eine sehr lange, gemeinsame Zeit zurückgreifen können.

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