In jeder Stunde kracht es in einem trauten Heim

  15.11.2019 Laufenburg

Zunahme von häuslicher Gewalt auch im Fricktal

Was ist zu tun, wenn der Verdacht besteht, dass Kinder Opfer von häuslicher Gewalt sind? Diese Frage stand im Zentrum der 2. Netzwerk-Veranstaltung Kindesschutz im Bezirk Laufenburg vom Mittwochnachmittag in der Aula des Schulhauses Blauen.

Simone Rufli

Mal wird im Dorf gemunkelt, mal sind die Nachbarn Zeugen von Auseinandersetzungen. Oft fällt das Kind durch Verhaltensänderung in der Schule auf und immer häufiger ist es die Polizei, die bei Gewaltausbrüchen im trauten Heim einschreiten muss. Gab es im 2015 noch 1264 aktenkundige Fälle von häuslicher Gewalt im Kanton Aargau, waren es im letzten Jahr bereits 2004. Davon gingen 492 Fälle als Strafverfahren an die zuständige Staatsanwaltschaft weiter. Immer geht es darum, dass ein Traum zerplatzt. Der Traum von der heilen Familienwelt, wo Eltern Schutz bieten und Kinder geschützt und in Geborgenheit aufwachsen. So wie im Film «Der zerplatzte Traum», erstellt von der Kantonspolizei Solothurn, abgespielt am Mittwochnachmittag am Netzwerk-Anlass Kindesschutz in Laufenburg.

Den Schuh in der Türe
«In der Regel sind wir nicht willkommen und trotzdem ist es wichtig, dass wir den Schuh in die Tür halten und die Gewalt stoppen», erklärte Werner Bertschi, Polizeichef Oberes Fricktal, in seinem Referat. Weil sie in die Privatsphäre eindringen müssen und in eine emotional aufgeladene Stimmung hineingeraten, sind es immer mindestens vier Polizeiangehörige, die in Fällen von häuslicher Gewalt ausrücken. «Die Einsatzzentrale teilt uns schon auf dem Weg mit, ob Kinder im Haushalt leben. Sind Kinder da, wollen wir sie sehen», betont Bertschi, «und zwar auch dann, wenn es heisst, dass sie schlafen.» Bertschi erwähnte das hohe Mass an Verantwortung. «Weil die Polizei als einzige direkt vor Ort ist.» Ihre Lagebeurteilung und Befragungen dienen anderen Institutionen als Entscheidungsgrundlage.

Manchmal komme es zu einer Wegweisung eines Elternteils für eine gewisse Zeit, nach dem Grundsatz: «wer schlägt, geht». Fehle es an Einsicht und an der Fähigkeit, Hilfe anzunehmen, mache die Polizei eine Gefährdungsmeldung ans Familiengericht – aber erst, wenn das Kindeswohl anders nicht garantiert werden könne. Gefährdungsmeldungen, das wurde von allen Seiten betont, stehen immer am Ende der Massnahmenkette. «Die Eltern sollen in der Verantwortung bleiben», sagte auch Sandra Wey, Stellenleiterin Jugend- und Familienberatung Laufenburg.

Rat bei der Kinderschutzgruppe
Johannes Gerber, Fachpsychologe für Kinder- und Jugendpsychologie von der Kinderschutzgruppe Kantonsspital Aarau erläuterte an Beispielen die Zusammenarbeit mit Schulen und Fachstellen. Die Kinderschutzgruppe erfüllt den kantonalen Auftrag in folgender Hinsicht: Interne Fälle KSA (20%), Fachberatung bei Verdacht auf Kindsmisshandlung (30%), proaktive Beratung nach Vorfällen von häuslicher Gewalt mit Triage punkto Gefährdung (50%). Ziel der Kontaktaufnahme sei die Beratung und Befähigung der Eltern, sowie die Vermittlung an andere Fachstellen. Gerber gab zu bedenken: «Zuschauen wie ein Vater die Mutter schlägt, ist für ein Kind gleich schlimm, wie wenn es selber geschlagen wird.»

Zu den 2004 Fällen im Kanton Aargau meinte Gerber: «Die Dunkelziffer ist beträchtlich. Es kracht vier- bis fünfmal so oft wie in der Statistik erfasst, also rund 10000 mal pro Jahr. Das heisst, jede Stunde kracht es in einem trauten Heim im Aargau.»

Positives Menschenbild vermitteln
Für Schulsozialarbeiterin Rahel Brun ist die Rücksprache mit der Kinderschutzgruppe sehr hilfreich. Denn wie so oft, bleibe ganz viel Verantwortung an den Schulen und an den Schulpflegen hängen, weil die Kinder sich dort jeden Tag aufhalten und entsprechend auffällig werden. Tanja Hiltbrunner vom Frauenhaus Aargau Solothurn gab schliesslich Einblick in die Fälle, wo Mädchen im Alter zwischen 13 und 18 Jahren als Opfer von Gewalt oder in Notsituationen Schutz vor dem Elternhaus suchen. «Wir haben keinen Erziehungsauftrag, aber wir bieten eine engmaschige Begleitung. Das Ziel ist, die Jugendlichen in ihrem Selbstwertgefühl zu stärken und ihnen ein positives Menschenbild zu vermitteln.» Solche Notfallplätze für Jugendliche sind aber rar. Zu rar, wie aus dem Publikum vermerkt wurde.

Zusammenarbeit und Datenschutz
Das Interesse am 2. Netzwerkanlass war gross, die Aula im Schulhaus Blauen gut gefüllt mit Vertreterinnen und Vertretern aus Gemeinden (Abteilung Soziales), Schulpflegen, Schulleitungen, Schulsozialarbeit, Schulpsychologischer Dienst, Mütter und Väterberatung, Logopädischer Dienst, Jugend- und Familienberatung, Stiftung Netz, Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Familiengericht. Organisiert wurde die Veranstaltung vom Koordinationsteam bestehend aus Rahel Brun (Schulsozialarbeiterin, schulsozialdienst.ch), Marion Dambach (Standortleiterin Schulpsychologischer Dienst, Aussenstelle Frick) und Sandra Wey (Stellenleiterin Jugendund Familienberatung Laufenburg). Mit den Netzwerk-Veranstaltungen verfolgen sie das Ziel, die verschiedenen Angebote im Bereich Kindesschutz im Bezirk Laufenburg vorzustellen, anhand von Fallbeispielen Lösungswege aufzuzeigen, sowie die Zusammenarbeit der Fachstellen im Dienste des Kindeswohls zu optimieren. Was nicht immer einfach ist, schliesst der Datenschutz doch den ungehinderten Austausch von Informationen aus.


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