Dolmetscherwesen: Professionalisierung notwendig

  09.07.2019 Nordwestschweiz, Leserbriefe

Die Dolmetscherin verliert schon wieder den Faden, da sie sich während den Erklärungen des Gerichtspräsidenten keinerlei Notizen macht. Sätze, die schwierigere Begriffe enthalten, lässt sie einfach aus, anstatt über die Bedeutung des ihr unbekannten deutschen Wortes nachzufragen. Grundlegende Rechtsbegriffe verwechselt sie wiederholt (z.B. «Anklage» und «Verurteilung»). Und mehrmals äussert sie gegenüber dem Gericht ihre eigenen Kommentare zum Fall, anstatt ihrer Rolle entsprechend möglichst wortwörtlich zu übersetzen. Nach der Verhandlung verlässt auch die frisch verurteilte Person den Saal mit fragendem Blick, denn sie hat aus der Übersetzung nicht wirklich verstanden, was nun mit ihr geschieht. Als Bezirksrichter sehe ich leider immer wieder, dass Personen mit ungenügender Kompetenz für das Dolmetschen an Gerichtsverhandlungen aufgeboten werden. Dies obwohl Mängel in der Übersetzungsleistung substantielle Folgen haben können und gar zu Fehlurteilen führen. Da ich selbst mehrere Fremdsprachen spreche und auch für die Bundesanwaltschaft und das Bundesstrafgericht dolmetsche, kann ich Fehler in «meinen» Sprachen erkennen und intervenieren. Doch der Normalfall ist, dass das Gericht die Qualität der Übersetzung nicht beurteilen kann. Im Kanton Aargau kann jeder zum Gerichtsdolmetscher werden, wenn er oder sie behauptet, die betreffende Fremdsprache zu kennen. Eine Eintrittsprüfung gibt es nicht, geschweige denn eine Vorbereitung oder Ausbildung. Daher stehen auf den Gerichtsdolmetscherlisten auch Personen, welche die Voraussetzungen für diesen Job offensichtlich nicht erfüllen. Damit hinkt der Aargau den Entwicklungen in den anderen Kantonen hinterher, in denen die Schlüsselkompetenzen für die Dolmetschertätigkeit getestet werden: Die Beherrschung der deutschen Sprache, grundlegende Kenntnisse im Rechtsbereich, das Handwerkszeug des Dolmetschens (Nacherzählen eines Falls, Notizentechnik) und die Kenntnis der Erwartungen, die an einen Dolmetscher gestellt werden (wörtliche Übersetzung ohne eigenen Kommentar). Die meisten Kantone bieten zur Vorbereitung auch mehrtätige Schulungen an, die zum Grossteil durch die Dolmetscher selbst bezahlt werden. Dass es nicht reicht, eine bestimmte Muttersprache zu haben, um eine Gerichtsverhandlung zu übersetzen, ist eigentlich offensichtlich. Die Aargauer Justizleitung lehnte jedoch vergangenes Jahr meine Anregung einer Eintrittsprüfung für die Dolmetschertätigkeit ab und begründete dies mit zusätzlichen Kosten. Die Einsparungen erfolgen damit am falschen Ort. Es ist sehr zu hoffen, dass die anfangs 2019 angetretene neue Justizleitung hier etwas ändert, um dem Anspruch eines modernen Justizwesens gerecht zu werden und um die Rechtssicherheit zu gewährleisten.

MICHAEL DERRER, BEZIRKSRICHTER GLP, RHEINFELDEN


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