«Ich arbeite jeden Tag „bis am Füüfi“»

  26.12.2018 Gipf-Oberfrick

Aus Afghanistan geflohen, setzt Sayed seit seiner Ankunft im Fricktal alles daran, sich zu integrieren – über die Sprache, den Fussball und seit Anfang Dezember auch über die Arbeit.

Simone Rufli

Wir treffen uns am Abend, denn Sayed arbeitet «bis am Füüfi». Sein Gesicht verzieht sich zu einem breiten Lachen. «Bis am Füüfi», wiederholt er. «Langsam fange ich an, ein bisschen Schweizerdeutsch zu verstehen», fährt er in beeindruckend gutem Hochdeutsch fort. Der 22-Jährige stammt aus Afghanistan. «Vor drei Jahren und einem Monat» – Sayed legt Wert auf exakte Angaben – ist er in Kreuzlingen angekommen. Über Muri und Gränichen gelangte er vor zwei Jahren nach Gipf-Oberfrick. Heute lebt er zusammen mit neun anderen männlichen Asylbewerbern in einem Haus. Sein Zimmer teilt er mit einem Mitbewohner. Schnell kommt er auf das zu sprechen, was ihn derzeit am Glücklichsten macht: «Seit Anfang Dezember darf ich arbeiten.» Das macht ihn nicht nur glücklich, sondern auch stolz. «Lange Zeit schien das unmöglich. Doch wenn Sayed etwas möchte, bleibt er hartnäckig», ergreift nun Franz Küpfer das Wort. Der pensionierte Lehrer ist mitgekommen, um Sayed im Gespräch zu begleiten und einfach für ihn da zu sein. Er unterstützt Sayed beim Erlernen der deutschen Sprache und auch sonst im Alltag. Nicht nur als Lehrer hält er grosse Stücke auf seinen Schützling.

Unterwegs mit dem gelben Velo
«Ein junger Mann, mit einem gelben Velo, immer schnell unterwegs durch unser Dorf – so habe ich Sayed zu Beginn wahrgenommen.» Erst später im freiwilligen Deutschkurs hat Franz Küpfer mitbekommen, dass das Velo nur selten einfach so im Dorf bleibt. «Sayed ist damit schon nach Aarau, Olten und Rheinfelden gefahren und einmal sogar bis nach Basel. Da ist einer, der probiert seinen Weg zu gehen, habe ich mir gedacht, als er mir das im Unterricht erzählte.» Beim Thema Deutschunterricht kommt Sayed so richtig in Fahrt. Er erzählt, wie es ihm zu Beginn schwergefallen sei, mit den Artikeln umzugehen. «Im Persischen, wie ich es in Afghanistan gesprochen habe, gibt es keine Artikel. Wir sagen nicht: Ich gehe in die Schule oder zur Schule und auch nicht ich komme aus der Schule. Bei uns heisst das, ich gehe Schule und ich komme Schule. Sayed lacht und verdreht die Augen. Er kämpft sich erfolgreich und offensichtlich mit Freude durch den Dschungel der deutschen Grammatik, erzählt von Konjunktiv und Vergangenheitsformen und von den Buchstaben, die anfangs so seltsam waren, dass er nie recht wusste, wo er mit dem Stift ansetzen sollte, zum Beispiel beim kleinen g. Ganz abgesehen davon, dass er lernen musste, von links nach rechts zu lesen und schreiben.

Schiedsrichter bei den E-Junioren
Er gibt nicht nur vollen Einsatz, wenn’s um die korrekte Anwendung der deutschen Sprache geht. Sayed spielte in Afghanistan Volley- und Fussball. «Fussball am liebsten», erzählt er. Was also liegt näher, als auch in der Schweiz Fussball zu spielen? Franz Küpfer lacht und schaltet sich ein: «Sayed lag mir und meiner Frau sicher ein halbes Jahr lang in den Ohren mit dem Wunsch, in einem Verein in einer richtigen Mannschaft mitspielen zu dürfen.» Die ersten Anläufe scheiterten. Sayed liess nicht locker, bewies Hartnäckigkeit und Geduld, Küpfers zogen mit – bis sich schliesslich, über diverse Umwege, ein Türchen auftat. «Ich durfte zu einem Probetraining beim FC Frick», Sayed strahlt und Küpfer sagt, wozu Sayed zu schüchtern ist: «Trainer und Mannschaftskollegen mochten ihn auf Anhieb, luden ihn zu weiteren Trainings ein.» Er sei in der Whats-App-Gruppe der Mannschaft, erzählt Sayed. Und wieder war es sein Einsatz, dem er ein weiteres Angebot verdankt. «Sie fragten mich im FC, ob ich Schiedsrichter für die E-Junioren werden möchte.» Sayed wollte. Es folgte ein Kurs in Brugg und seither pfeift der junge Mann regelmässig Spiele und gibt dem Verein durch seine Arbeit etwas zurück. «Das ist mir wichtig, denn am Anfang konnte ich ja den Mitgliederbeitrag gar nicht selber bezahlen», erklärt Sayed, der jedes Mithelfen im Verein als Chance für eine noch bessere Integration versteht.

Und jetzt ist der 22-Jährige also soweit, dass er ein Praktikum als Spengler absolvieren darf. Spricht er von der Arbeit bei der Firma Kehrli & Obrist in Oeschgen, leuchten seine Augen. «Die Arbeit gefällt mir. Der Chef und die Arbeitskollegen sind toll und ich möchte weiter dort arbeiten und nach dem Praktikum eine Lehre als Spengler beginnen.» Dass er von seinem Lohn fast alles wieder abgeben muss, als Rückerstattung an die Sozialhilfe, stört ihn nicht. Er findet das richtig. «Ich will etwas zurückgeben. Mir geht es hier gut.»

Und dann kamen die Taliban
Nur einmal im Verlauf des Gesprächs wird Sayed traurig. Als er erzählt, dass er seit einem Monat keine Verbindung mehr herstellen kann zu seiner Familie in der Heimat. «Sie sind geblieben, in der Hoffnung, der Krieg, der seit bald 40 Jahren in Afghanistan wütet, möge unsere Region verschonen. Jetzt sind die Taliban doch gekommen», sagt Sayed und das Sprechen fällt ihm schwer. Die Ungewissheit macht ihm zu schaffen, dazu das Wissen, dass seine Familie nicht einfach in einen anderen Ort flüchten kann. «Alle Verwandten leben im selben Ort und an ein Versteck in den Bergen ist bei der Kälte im Winter nicht zu denken.» Für einen Moment hat das Gespräch seine Unbeschwertheit verloren. War er schon mal bei uns in den Bergen? «Nein», sagt Sayed und während sich seine Miene aufhellt und sein Lächeln zurückkehrt; er erzählt, dass so ein Ausflug geplant sei. «Ich mag den Winter und die Kälte. Der letzte Sommer war wirklich zu heiss, das haben mir auch viele Schweizer gesagt, mit denen ich mich über das Klima unterhalten habe.» Sayed übt Deutsch, wenn immer sich die Gelegenheit dazu bietet. Lachend fügt er hinzu: «Früher habe ich beispielsweise zum Arzt einen Übersetzer mitnehmen müssen. Heute gehe ich überall hin und spreche selber mit den Leuten.»


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