Sägesser und das Wechselbad

  10.11.2018 Hellikon

Das Leben hat viele Bilder. Eine Geschichte über Freud und Leid

Christian Sägesser verdient mit der Fotografie sein Geld. Steht er als Freiwilliger für die Organisation «Herzensbilder» im Einsatz, ist er für betroffene Eltern unbezahlbar.

Ronny Wittenwiler

Als Fotograf tanzt Christian Sägesser auf vielen Hochzeiten. Wenn Brautpaare den Bund fürs Leben schliessen, er hält ihn fest: diesen Moment perfekten Glücks, ein Himmel voller Geigen. Irgendwann während des Gesprächs greift Sägesser zum Taschentuch, die Augen gerötet. Der schönste Tag im Leben, er ist plötzlich weit weg.

Wenn ein Baby geboren wird und diese Welt bereits wieder verlassen muss; oder eine Krankheit, die mitten in die Familie trifft, so, dass jegliche Hoffnung hoffnungslos ist. Nein, Christian Sägesser, 41, hat nicht nur das blühende Leben vor der Linse. Gerade noch hat er herzhaft gelacht. «Ja», sagt er. «Die Gefahr, dass man sich bei diesem Engagement zu viel Leid auflädt, sie besteht.» Im eigenen Glücklich sein findet er Ausgleich. Dieses Gespräch mit ihm, ein einziger Streifzug durchs Lebens.

Von der SBB zur Kapo
Am 1. November 1995 löst Christian Sägesser sein vielleicht wertvollstes Zweierticket. Die Ausbildung abgeschlossen, begegnet er am ersten Arbeitstag am Bahnhof Basel seiner späteren Frau. «Sie arbeitete ebenfalls als Kondukteur.» Heute hat das Paar eine Tochter, achtjährig, ein gemeinsames Zuhause in Hellikon, gute Freunde und so vieles, was es braucht. Der Zugbegleiter von damals musste ein- oder zweimal umsteigen auf seiner Fahrt ins Glück. «Ich bin absolut happy», sagt Sägesser über sein aktuelles Leben – und strahlt. Mit der NFZ sitzt er in seinem eigenen Fotostudio in Möhlin. Am andern Tag wird er wieder in der Stadt sein, uniformiert, und er wird den Ärger und die Nöte der Menschen notieren. Hinter jedem Rapport steckt genaugenommen eine persönliche Geschichte. Manche sind schicksalshaft. Christian Sägesser kann damit umgehen. Es ist sein Job. Kantonspolizist im Hauptberuf. Postenchef auf einer Basler Wache.

Und es hat Klick gemacht
Immer wieder war ihm die Fotografie Begleiterin im Leben. Vor ein paar Jahren aber, da hat es endgültig Klick gemacht. Das Pensum bei der Polizei reduziert, auf achtzig Prozent, arbeitet Sägesser heute einen Tag pro Woche in seinem Studio. Hinzukommen Aufträge an Wochenenden. Shootings. Hochzeiten. Geburtstagsfeiern. Oder, wie zuletzt, im offiziellen Auftrag für das Dorffest Zeiningen. Bewaffnet mit Fotokamera, immer auf der Suche nach dem perfekten Schuss. Dieses Tun ist ihm mehr als ein zweites Standbein. Die Teilzeitfotografie in homöopathischen Dosen tut ihm gut. Keiner weiss das besser als er selbst. «Das ist kein schönes Kapitel, doch es gehört genauso zu meiner Geschichte.» 2012 war es, Sägesser tanzte auf der einen oder anderen Hochzeit zu viel. Hier ein Engagement, dort eines, die Fähigkeit, mal einfach eine Anfrage konsequent auszuschlagen: von wegen. Sägesser im Hamsterrad. Ausgebrannt. Er brauchte fachliche Hilfe. Und jetzt blitzt sie sichtbar auf: diese schiere Erquickung. «In dieser Zeit habe ich wieder zur Fotografie gefunden.» Und er fand wieder zu sich selbst.

«Wenn sie dir die Hand reichen»
Sägesser weiss es nicht genau; weiss nicht, was ihn immer wieder antreibt, nach Feierabend, samstags, sonntags, oder kurz vor Anbruch einer traurigen Nacht. «Vielleicht, weil es mir und meiner Familie gut geht. Weil wir alle gesund sind.» Er weiss es nicht so genau. «Doch wenn diese Eltern dir am Ende die Hand reichen. Der Blick in ihre Augen beim Abschied. Diese Dankbarkeit in diesem absoluten Ausnahmezustand. Sie lässt sich mit Worten nicht beschreiben.»

Rund drei Jahre sind vergangen, als Christian Sägesser zum ersten Mal im Einsatz stand: ehrenamtlicher Fotograf für den gemeinnützigen Verein Herzensbilder. Seither kamen knapp zwanzig Einsätze hinzu.

Bereits vor dem Treffen klickt sich die NFZ auf die Webseite von Herzensbilder. Mutter des Projekts ist Kerstin Birkeland, 2013 erhält sie den Publikumspreis von Radio SRF: «Heldin des Alltags». Auf dem Tisch vor Sägesser ein Prospekt: «Herzensbilder schickt Profi-Fotografen zu Familien mit schwerkranken, schwerbehinderten oder viel zu früh geborenen Kindern oder schwerkranken Elternteilen, um ihnen wunderschöne Familienbilder zu schenken.» Darf man das? Soll man das? Ja, wir stellen diese Frage, ohne Wertung, aber in der Neugier, ob man sich hie und da den Vorwurf des Voyeurismus‘ anhören müsse. «Das kommt vor. Wenn auch hinter vorgehaltener Hand», sagt Sägesser in einer bislang nicht dagewesenen Nüchternheit. Darüber könne er stehen. Genau wie alle anderen Freiwilligen. «Der Wunsch der Eltern in solchen Ausnahmesituationen steht über allem. Mehr gibt es für mich dazu nicht zu sagen.»

Das Treffen ist vorbei. Wieder im Auto, der Tag hat nicht wirklich begonnen, es ist grau, nochmals ein Blick auf den Prospekt. Dort steht dann auch:

«Weil Bilder so wichtig sein können irgendwann, um gemeinsam zurückzublicken auf eine wahnsinnige Zeit, die geschafft ist, die man zusammen überstanden hat.»

«Vielleicht aber auch, um berührende Erinnerungsbilder zu haben für dann, wenn der Kampf nicht gewonnen werden kann, wenn das Kind zum Sternenkind wird und Fotos so unendlich wichtig werden.»

Wenige Augenblicke zuvor, als Sägesser genau davon erzählt hatte, da entschuldigte er sich flüchtig für seine feuchten Augen. Noch jetzt, Tage später, keine plausible Erklärung, weshalb er sich ausgerechnet dafür entschuldigen sollte.

www.herzensbilder.ch


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