«Wir realisieren, was uns die Lebensmittelindustrie alles vorsetzt»

  22.04.2018 Wallbach

Janine Tschopp

Auf dem Tisch stehen einige Lebensmittel, die Stephan Stocker nicht essen darf: Getreideriegel, Ovomaltine-Brotaufstrich, Konfitüre, Schokoladekuchen, Erdnüsse und Honig. Sogar die meisten Zahnpasten enthalten Inhaltsstoffe, die Stephan Stocker gar nicht gut tun.

Der 39-Jährige leidet an der erworbenen oder intestinalen Fructose-Intoleranz. Ursache für die Unverträglichkeit ist ein defektes Transportprotein, der sogenannte «Glut-5-Transporter». Das Protein hat die Aufgabe, dem Nahrungsbrei im Dünndarm die enthaltene Fructose (Fruchtzucker) zu entziehen. Weil dies aufgrund des defekten oder fehlenden Proteins bei Stephan Stocker nicht passiert, bleibt die Fructose im Nahrungsbrei und wandert weiter bis in den Dickdarm. Dort beginnen die Bakterien der Darmflora, die Fructose abzubauen. Dabei entstehen Gase wie Methan, Kohlendioxid und Wasserstoff, die bei Stephan Stocker Beschwerden wie Blähungen, Bauchschmerzen und Durchfall auslösen. Man könnte meinen, dass er aufgrund seiner Fructose-Intoleranz nur Früchte von seinem Speiseplan streichen muss, aber so einfach ist es nicht.

«Ich war schockiert, wo überall Fructose enthalten ist»

«Ich dachte, ich müsste einfach auf Früchte verzichten. Als wir uns dann damit beschäftigt haben, waren wir schockiert, in welchen Lebensmitteln überall Fructose enthalten ist», erklärt Stephan Stocker.

Nicht nur Fructose in Obst und Gemüse ist problematisch. Oftmals sind es industriell gefertigte Lebensmittel, die Fructose als Süssungsmittel enthalten. «Auf eine Art bin ich auch dankbar, dass Stephan diese Unverträglichkeit hat. So sind wir aufmerksam und realisieren, was uns die Lebensmittelindustrie alles vorsetzt», erklärt Stephans Frau, Andrea Stocker.

Fructose versteckt sich in vielen Süssungsmitteln, wie zum Beispiel in Haushaltszucker, in Honig, Invertzucker oder in Sorbit. Sorbit ist ein Zuckeralkohol, der in Früchten teils natürlicherweise vorkommt, aber auch oft als Zusatzstoff E420 als Zuckeraustauschstoff, Trägerstoff sowie als Feuchthaltemittel zum Einsatz kommt.

Intoleranz vor zehn Jahren festgestellt

Stephan Stockers Unverträglichkeit kam vor zehn Jahren ans Licht, als er sich vornahm zum Znüni vermehrt Früchte anstelle von Frikadellen zu essen. «Ich ass oftmals Erdbeeren, Mangos oder Dörraprikosen», schildert Stephan Stocker. Er bekam die Früchte gerne und verlor sogar noch etwas Gewicht dabei. «Mit dem Abnehmen kamen aber auch die Beschwerden mit Blähungen und Durchfall», erinnert er sich. Aufgrund seiner körperlichen Reaktionen gingen die Ärzte von einer Laktose-Intoleranz aus. Der Test fiel negativ aus. Eine Mitarbeiterin aus dem Universitätsspital in Basel machte Stephan Stocker darauf aufmerksam, dass er an Fructose-Allergie leiden könnte. Tatsächlich wurde die Unverträglichkeit mittels eines H2-Atemtests eindeutig belegt.

Seither hat sich im Leben von Stephan Stocker und seiner Familie einiges verändert. Er und seine Frau haben sich intensiv mit seiner Intoleranz auseinandergesetzt. Es kommt kein einziges Lebensmittel mehr in den Einkaufswagen, bei welchem sie die Zusammensetzung nicht kennen. Fertigprodukte sind im Haushalt von Familie Stocker kaum zu finden. Andrea Stocker bereitet vieles, wie zum Beispiel Zopf, Kuchen, Pizzateig oder Salatsaucen immer selber zu. Viele Rezepte kann sie heute aufgrund von Stephans Unverträglichkeit nicht mehr kochen.

Als Folge der Fructose-Intoleranz auch weitere Unverträglichkeiten

Da Stephan Stockers Organismus im Vergleich zum Organismus anderer Menschen teils überaktiv funktioniert, kann er auch auf andere Lebensmittelbestandteile, wie zum Beispiel Ballaststoffe, allergisch reagieren.

«Es ist immer ein Ausprobieren», erklären Stephan und Andrea Stocker. «Pilze wie Morcheln oder Eierschwämmchen vertrage ich grundsätzlich, Champignons eher nicht. Erdnüsse vertrage ich nicht, andere Nüsse schon. Auch tut mir gekochtes Gemüse besser als Rohkost», so Stephan Stocker. Er würde sich freuen, in einem Restaurant die Speisekarte aufzuschlagen und einfach nach Lust und Laune zu bestellen. «Das Verzichten stresst mich nicht. Es stresst mich aber, dass ich nicht frei sein kann und immer die Ungewissheit habe, dass mir ein Lebensmittel nicht gut tut.»

Stephan und Andrea Stocker sind der Meinung, dass es viele Menschen gibt, die an Fructose-Intoleranz leiden, aber sich dessen gar nicht bewusst sind. Als Stephan Stockers Krankheit vor zehn Jahren ans Licht kam, gab es noch viel weniger Informationen darüber als heute. Heute sind die Stockers im Besitz von vielen Erfahrungen, einigen Büchern und lernen das eine oder andere auch übers Internet, wo es spezielle Foren gibt.

«Im Gegensatz zu bekannten Intoleranzen, wie Laktose-Intoleranz oder Zöliakie, wird Fructose-Intoleranz noch zu wenig thematisiert und es wird auch zu wenig darauf aufmerksam gemacht», ist Andrea Stocker überzeugt. Stephan und Andrea Stocker sind der Meinung, dass die Lebensmittelindustrie und die Ladenketten Fructose-Intoleranz noch immer sehr stiefmütterlich behandeln. Sie erklären: «Man bringt zum Beispiel lieber ‹gesunde› Linien, mit industriellem Fruchtzucker gesüsst, auf den Markt. Wer sich, wie wir, mit diesem Thema auseinandersetzt, weiss, dass industrieller Fruchtzucker keine heilbringende Wunderwaffe ist und auch Schuld sein kann für Diabetes, Übergewicht, Herz-Kreislauferkrankungen, Krebs oder Gicht.»

Stephan Stocker beabsichtigt, ein Präparat («Fructaid») auszuprobieren, das die Verdauungsbeschwerden bei Fructose-Intoleranz lindern soll. Er hofft, dass er dadurch wieder einen Teil seiner Freiheit, was die Lebensmittelauswahl anbelangt, erlangen kann.

 

 

 

 


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote