Ein Geschenk auf Samtpfoten

  19.12.2017 Aargau, Nordwestschweiz, Kunst, Oberes Fricktal, Gemeinden, NFZ plus, Unteres Fricktal, Literatur

von Susanne Hörth

 

Er war einfach plötzlich da. Er hat es sich auf dem braunen Sessel im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Ihr erster Gedanke, als sie ihn an diesem frühen Morgen entdeckt, ist: Typisch. Alle wollen auf den alten Stubestuhl. Dabei gehört der noch längstens entsorgt. Das Wohnzimmer ist ihr grosser Stolz. Mit seinen naturweissen Möbeln – sie mag den skandinavischen Stil – hat sie den Raum hell und gleichzeitig heimelig gestaltet. Wäre da nicht eben der braune, alte Ledersessel. Und darauf liegt nun zusammengerollt und schlafend eine rötliche Katze. «Er ist etwas dünn», denkt sie und beisst sich auf die Lippen. Nein, kein Mitgefühl. Der Kater – sind rote Katzen nicht meist männlich?— gehört hier nicht hin. Wie ist er überhaupt reingekommen? Ist das Katzentürchen unten am Kellerfenster noch offen? Seit sie vor einem Dreivierteljahr ihre geliebte Maya haben gehen lassen müssen, wird das Fenster im Fenster von allen in der Familie ignoriert.

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«Hoi Mami. Oh ist die schön. Wem gehört sie? Uns? Wer hat sie gebracht? Hast Du sie da hingetan? Darf ich sie streicheln?» Lisa hat Lars nicht gehört. Fertig angezogen steht der Neunjährige neben ihr. Den Schulsack hat er beim Anblick der fremden Katze achtlos fallen lassen. Lose Blätter, ein Buch, ein angebissener Apfel und ein mehr oder weniger leeres Etui verteilen sich auf dem Boden. Lars beachtet es nicht. Längst sitzt er neben der Katze, streichelt sie. Das «Warte, vielleicht beisst sie» seiner Mutter hört er nicht, will es nicht hören. «Mami schau, sie mag mich. Mami, gell, die behalten wir? Weiss es Papi schon? Der wird sich aber wundern!» Schon lange nicht mehr hat Lisa ihren Sohn so viel und aufgeregt reden hören.

Die Augen des Buben glänzen. Er vermisst Maya noch immer, denkt Lisa und wird traurig. Hätten wir ein neues Büsi anschaffen sollen? Nein, nein. Peter und sie haben sich doch aus Vernunftsgründen dagegen entschieden. Seit sie wieder arbeiten geht, hat sie auch weniger Zeit für den Haushalt. Und ein Tier macht Arbeit. Sie weiss das aus Erfahrung. Seit vor eineinhalb Jahren zuerst Dackel Max und dann eben später auch Katze Maya gestorben sind, hat das für sie doch zu einiger Entlastung geführt. Sie nickt, wie um sich ein weiteres Mal in dieser Erkenntnis zu bestätigen. Lars streichelt noch immer das Büsi. Es hat sich mittlerweile etwas zur Seite gedreht und geniesst mit lautem Schnurren die Streicheleinheiten. «Ich glaube, sie hat Hunger», sagt Lars das, was Lisa gerade gedacht hat. Die Rippen der Katze zeichnen sich deutlich unter dem Fell ab.

«Wer hat Hunger?» Peter steht jetzt ebenfalls im Wohnzimmer und schaut seine Frau fragend an. Dann sieht er die Katze. «Ich habe gedacht, wir seien uns da einig gewesen», zischt er laut hörbar in Richtung Lisa. Seinen Sohn fordert er mit kurzen Worten auf, die Hände zu waschen und dann die verstreuten Schulsachen einzusammeln. Lisa blickt zu Boden. Sieht das Blatt mit der Erwachsenenschrift darauf. Sehr geehrte …. , steht da. «Peter, schau…» will sie schon sagen, verstummt dann wieder, liest den Brief fertig. Die Lehrerin von Lars bittet die Eltern um ein Gespräch. Der Junge mache kaum mehr im Unterricht mit. Nur wenn es ums Geschichten erzählen gehe, komme der Bub in Fahrt. Die Lehrerin müsse ihn dann manchmal bremsen. Und wenn die Klassenkameraden sagen, es seien keine wahren Geschichten, sondern Lügen, die Lars erzählt, dann werde der Junge auch schon gerne mal aggressiv, habe sogar schon nach andern Kindern getreten und geschlagen. Mit seinen früheren Freunden würde sich der Bub kaum mehr abgeben. Er sei viel alleine auf dem Pausenplatz unterwegs.

Peter hat Lars in die Schule gefahren. Das Büsi hat den normalen morgendlichen Ablauf etwas durcheinander gebracht und der Drittklässler hat dadurch das Poschti verpasst. Es ist Lisas freier Morgen. Eigentlich müsste sie jetzt bereits bei ihrem Vater sein, so wie jeden Donnerstag. Seit die Mutter im Pflegeheim ist, helfen Lisa und ihre Schwester regelmässig dem Vater. Er sagt zwar immer, da sei nicht nötig, er könne zum Glück noch alleine für sich sorgen. Lisa weiss aber, dass er es geniesst. Das Alleinsein macht ihn traurig. Lisa ist froh, dass sie helfen kann. Heimlich gesteht sie sich aber auch ein, dass es sie stresst. Nebst Lars, dem Haushalt, der Arbeit – immer dieses Hin- und Herfahren. Lisa sitzt vor dem roten Büsi auf dem Küchenboden. Mangels Katzenfutter hat sie etwas Hackfleisch mit Hüttenkäse gemischt und dem hungrigen Kater hingestellt. Die Selbstverständlichkeit, mit der er zuvor den Stubensessel in Beschlag genommen hat, ist auch jetzt wieder spürbar. Er geniesst das Essen, um sich dann in aller Ruhe zu putzen.

«So ein hübscher Kerl. Warum er wohl gerade zu uns gekommen ist? Sicher vermisst ihn jemand», denkt Lisa laut. Sie holt ihr Smartphone. Fotografiert das Büsi. Das Bild mit entsprechendem Suchhinweis auf Facebook zu posten, fällt ihr schwer. Was, wenn sich gleich jemand meldet? Das Tier schon sehr vermisst und abholt, bevor Lars wieder zu Hause ist? Sie verdrängt die Gedanken und lässt einmal mehr die Vernunft walten und postet das Foto. Später, beim Vater, erzählt sie vom roten Kater. «Behaltet ihn doch. Lars hätte sicher grosse Freude.» Lisa weiss das. Sie blickt auf ihr Handy. Mittlerweile ist ihr Post 34 Mal geteilt wurden. Unzählige Kommentare stehen da. Ist er gechipt? Hast Du beim Tierarzt, im Tierheim angerufen? Es gibt da eine Meldeplattform und vieles mehr. Manche meinen auch, den Kater zu kennen. Bei letzteren krümmt sich Lisa leicht. Statt froh zu sein, will sie das eigentlich nicht lesen. Sie sieht ständig die strahlenden Augen ihres Sohnes.

Beim Mittagessen – am Donnerstag fährt Lars mit dem Poschti immer zu seinem Grossvater und isst hier mit ihm und seiner Mutter – legt der Bub eine Zeichnung auf den Tisch. «Schau Opa, das ist Max. Unser neuer Kater.» Der Grossvater lacht. «Der sieht ja aus wie ein Fuchs. Ist er auch so schlau?» Der Drittklässler nickt und sagt ohne aufzublicken: «Aber sicher, sonst wäre er ja nicht bei uns eingezogen.» Er redet weiter: «Was meinst Du Opa. Wäre es nicht gut, wenn Du von jetzt an am Donnerstag zu uns nach Hause zum Essen kommen würdest? Wenn es regnet, mit dem Poschti und sonst zu Fuss. Mami sagt doch immer, frische Luft ist gesund. Und ausserdem müsste Mami dann nicht immer hin und her fahren und Max wäre nicht so lange alleine.» Lisa staunt über den Redefluss ihres Sohnes. Sie weiss aber auch, jetzt muss sie eingreifen, erklären. Versuchen, dem Buben verständlich zu machen, dass die Katze nicht ihnen gehört.

Lars weint nicht. Hört nur zu und sagt dann den ganzen Tag nichts mehr. Einzig, als sie daheim ankommen, hört ihn Lisa aus seinem Zimmer glücklich rufen: «Hoi Max. Gell, es gefällt Dir auf meinem Bett.» Auch Peter bringt es später nicht übers Herz, die zusammengerollte Katze neben dem schlafenden Lars aus dem Zimmer zu holen.

«Ich habe heute mit der Lehrerin telefoniert», beginnt Lisa das Gespräch. Peter sitzt auf dem alten Stubensessel. Bevor seine Frau fortfahren kann, sagt er: «Ich habe sie heute vor der Schule getroffen. Sie hat mir erzählt, warum sie sich Sorgen um Lars macht. Weisst Du, sie meint, dass er eigentlich kein aggressiver Bub sei. Vielmehr sei er einfach ein sehr trauriges Kind. Das hat mir richtig weh getan.» Lisa wischt sich die Tränen ab.

Sie reden lange. Überlegen, wann aus dem so aufgestellten, glücklichen Lars der schweigsame, traurige Lars geworden ist. «Hat es mit meiner Arbeit zu tun?», fragt Lisa. Eine Arbeit, die sie nicht wirklich glücklich macht. Als Endvierzigerin wird sie von ihren jüngeren Kolleginnen im Büro gerne etwas belächelt. Da nützt ihr all ihr Fachwissen nichts. Auch dass sie so spät noch Mutter geworden ist und nun wieder arbeitet, verstehen viele nicht. Sie kann nicht anders und rechtfertigt sich ständig. Dass sie ajour bleiben will, nicht in Gefahr laufen möchte, dass der Junge zuhause als Einzelkind verpäppelt wird, sie bei dem grossen Haus froh um das Geld sind und und und.

Kurz nachdem sie wieder angefangen hat zu arbeiten, musste dann der kleine Dackel eingeschläfert werden und wenig später auch noch Katze Maya. Dann kamen auch noch die Zusatzaufgaben um den Vater und einiges mehr dazu. Und irgendwie funktioniert trotzdem alles. Es wird auch nie laut im Elternhaus von Lars. Im Gegenteil. Alles ist sehr leise. Jeder ist mit sich selbst beschäftig. Streicheleinheiten füreinander und für die Seele gibt es viel zu wenige. Lisa und Peter reden und reden. Dabei wird ihnen mehr und mehr bewusst, wie viele Versäumnisse sich in ihr Familienleben eingeschlichen haben. Sie beschliessen erste kleine Schritte für mehr Gemeinsamkeiten. Dazu gehört auch, dass Peter im Büro künftig mehr abgibt, die gewonnene Zeit mit der Familie verbringt. 

Ein feines Miauen tönt von der Stubentüre her. Max durchkehrt mit hochaufgerichtetem Schwanz das Zimmer. Bei Peter angekommen, springt er auf dessen Schoss und rollt sich zusammen. «Oh Max», murmelt Peter und streicht sanft über den Rücken des roten Katers.

Drei Wochen später, es ist Donnerstag. Lars sitzt bei sich zuhause mit seinem Grossvater am Küchentisch. Stolz legt der Bub einen Rechnungstest auf den Tisch. Nur zwei Fehler. Er ist etwas ungeduldig. Denn nachher kommt noch ein Schulkamerädli zum Spielen vorbei. Das Telefon klingelt. Es ist das Tierheim aus der Nachbarsgemeinde. Max, der eigentlich Pit heisst, ist dort vor ein paar Wochen ausgebüchst. Bevor der Kater ins Tierheim gebracht wurde, war das heimatlose Tier monatelang unterwegs, liess sich lange auch nicht einfangen. Im Tierheim blieb er dann fast zwei Jahre. Er wurde nach verschiedenen Platzierungsversuchen stets wieder hierher zurückgebracht. Der Kater wollte nirgends bleiben, fühlte sich nicht wohl. Die Leute beschrieben ihn als unnahbare, nicht sozialisierte Katze.

«Hätten Sie …?». Lisa liess die Frau am anderen Ende des Telefons nicht ausreden. «Ja, wir wollen. Und hätten Sie eventuell noch einen kleinen Hund, der bei Ihnen auf ein neues Zuhause wartet. Nein, nicht für uns. Mein Vater, der zweimal in der Woche bei uns zuhause für uns alle kocht, würde gerne für seine vielen Spaziergänge einen Begleiter und für bei sich daheim einen treuen Freund haben.» Lars strahlt: «Gell, tolle Geschenke gibt es nicht nur zu Weihnachten?» Nein, denkt Lisa und blickt zum Fenster hinaus. Bienchen tanzen im Sommersonnenlicht. Max, der gerade vom Kinderzimmer her Richtung Stubensessel unterwegs war, verharrte an der Küchentüre. Lisa könnte schwören, dass sich in diesem Moment ein breites Grinsen auf dem Gesicht des roten Katers ausbreitet. 


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