«Die Gleichstellung ist noch längst nicht erreicht»

  01.10.2017 Oberes Fricktal, Persönlich, Wölflinswil, Porträt

Von Simone Rufli

Ursula Nakamuras Sensibilisierung für die Sache der Frau begann schleichend, fast unbewusst. «Ich ging im Mädchen-Gymnasium in Basel zur Schule. Mein Vater war Gymnasial-Lehrer und bei uns waren oft Lehrerinnen und Lehrer zu Besuch. Die Diskussionen, die sie am Familientisch führten, haben mich geprägt.» Mit grossem Interesse verfolgte die Heranwachsende die Unterhaltungen, erlebte starke Frauen, selbstständiges Denken, Einstehen für Gerechtigkeit und kritisches Hinterfragen als geschlechterunabhängige Selbstverständlichkeiten. «Ich stellte mir früh die Frage, wie kann ich meinen Teil zu einer besseren Welt beitragen?» Ein Jahr als Au Pair in Frankreich brachte ihr die Gewissheit, wohin der berufliche Weg führen sollte. Ursula Stoecklin liess sich in Basel zur Krankenschwester ausbilden – und geriet in einen Beruf, der damals durch extreme hierarchische Strukturen geprägt war. Von ehemaligen Klassenkameradinnen, die sich zu Ärztinnen ausbilden liessen, wusste sie, dass es auch weiter oben in der Hierarchie nicht besser bestellt war um die Rechte der Frauen. Sie war in einer Männerdomäne angekommen und realisierte, dass das, was im Elternhaus und Freundeskreis so selbstverständlich daherkam, draussen in der Gesellschaft zuerst noch erkämpft werden musste.

 

Befreiung in den USA

Anno 1965 tauchte sie ein in eine Gesellschaft, die diesen Kampf bereits aufgenommen hatte. Als Mitarbeiterin in einem internationalen Spital in Chicago, zu einer Zeit, als die neue Frauenbewegung in Schwung kam, als die USA von einer Anti-Vietnam-Welle überrollt wurden, sog sie – einem Schwamm gleich – alles Neue und Befreiende in sich auf. Sie lernte ihren späteren Mann kennen, ein Japaner und Architekt. Und noch bevor sie mit ihm nach Japan reiste, liess sie sich in London zur Hebamme ausbilden. «Ich war jung und dachte, ich könnte später in Entwicklungsländer aufbrechen.»

 

Konservatives Japan, rollenorientierte Schweiz

Sie hatte bereits in London angefangen, japanisch zu lernen, so dass sie sich in Japan von Beginn an mit den Leuten verständigen konnte. Anders als zuvor in den USA und in Grossbritannien traf Ursula Nakamura-Stoecklin in der Heimat ihres Ehemannes auf eine konservative Gesellschaft. «Die Familie meines Mannes dagegen war sehr aufgeschlossen.» Bei der Arbeit in einem internationalen Spital wurde sie konfrontiert mit den Folgeschäden aus dem Atombombenabwurf über Hiroshima und in Fukushima erlebte sie die Angst der Bevölkerung, als es 1968 um den Bau des Atomkraftwerkes ging. Erfahrungen, die nachwirkten. Von 2008 bis 2016 war sie Geschäftsführerin von «Nie wieder Atomkraftwerke Aargau» (NWA).

Weil ausländische Ausbildungs-Zertifikate in Japan auf Dauer nicht genügen und Ursula Nakamura weiter arbeiten wollte, kehrte die Familie mit zwei Töchtern anno 1972 in die Schweiz zurück. Es war bei der Rückkehr als arbeitstätige Frau und Mutter, als sie realisierte, wie konservativ und rollenorientiert die Schweizer Gesellschaft funktionierte. Mit Hilfe von Familie und Freunden gelang es zwar, Betreuung für die Töchter zu finden. «Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf aber blieb eine begleitende Geschichte», sagt sie im Rückblick. Und sie realisierte, dass mit dem Frauen-Stimmrecht 1971 die Frauenrechte noch längst nicht hergestellt waren. «In den 1970er Jahren ging es um den straflosen Schwangerschaftsabbruch, um eine kritische Haltung gegenüber dem Militär und eine ganze Palette von Diskriminierungen.» Aus der «Vereinigung für Frauenstimmrecht Basel und Umgebung» wurde die «Vereinigung für Frauenrechte Basel» und ab 2009 «Frauenrechte beider Basel».

 

Von der Leitung zurück in die Pflege

Veränderungen gab es auch im Beruf: Von 1993 bis zur Pensionierung 2002 leitete sie zusammen mit anderen engagierten Frauen ein Alterszentrum in Baden. Eine 150-Prozent-Stelle. Um nach der Pensionierung langsam herunterzufahren, kehrte sie auf Wunsch für zwei Jahre in den Pflegedienst zurück. Nakamura schmunzelt: «Ich arbeitete inkognito in einem Basler Altersheim und erlebte, was alles auf dem Buckel der Pflegedienstmitarbeitenden ausgetragen wird. Lohnkürzungen, Personalabbau, steigender administrativer Aufwand – angeordnet von Karriere-Menschen, die keinen Bezug zur praktischen Arbeit haben.» Sie hält inne, schüttelt den Kopf. «Es gibt Zeiten, da rücken wir einem Ziel mit beachtlichen Schritten näher und dann gibt es Zeiten, wo wir in unseren Bemühungen zurückgeworfen werden. Die Gleichstellung ist längst nicht erreicht und darum darf auch unsere Arbeit nicht ruhen!» Ursula Nakamura kramt in ihrer Tasche, holt ein Blatt Papier hervor und legt es auf den Tisch. «Als Mitglied der SP Frauen Aargau setze ich mich mit dieser überparteilichen Petition ein für den Erhalt der Fachstelle für Gleichstellung. Wir wollen verhindern, dass der Kanton Aargau aus Spargründen in Gleichstellungsfragen zum Entwicklungskanton wird!»

Ursula Nakamura hat Jahrgang 1939. Nach all den Jahren des Kampfes für die Gleichstellung, für Frauenrechte regional, national und international, gegen Gewalt und gegen den Bau von Atomkraftwerken – gerade eben wurde sie als Angehörige der Widerstandsbewegung in Kaiseraugst geehrt – könnte sie in ihrem Heim in Wölflinswil den Ruhestand geniessen. Doch sie macht weiter. «


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