Der Kampf zurück ins Leben

  08.12.2016 Aargau, Möhlin, Persönlich, Gesundheit, Brennpunkt, Porträt, Unteres Fricktal

Über ein Jahr nach der Diagnose Leukämie: ein junger Mann erzählt

Von Ronny Wittenwiler

Eine kleine Erkältung, Halsweh. Zehn Tage später sucht Martin Freiermuth den Arzt auf, lässt sein Blut untersuchen. Und dann –geht alles sehr schnell. Am anderen Tag sieht er sich wieder in der Isolierstation im Unispital, und nur ein paar Stunden später, es ist Abend, erhält Martin Freiermuth gegen 19 Uhr die Diagnose, die ihn mitten in einen schlechten Film schickt mit ihm als Hauptdarsteller: Akute Leukämie. In seinem Blut befindet sich bereits eine hohe Anzahl Tumorzellen. Für Martin Freiermuth beginnt ein Kampf gegen den Blutkrebs, vor allem aber entscheidet er sich für etwas: für den Kampf zurück ins Leben.

Rund ein Jahr später sitzt der junge Mann am Küchentisch seiner Eltern. Martin Freiermuth hat überlebt. Was sich so leicht sagen lässt, ist keine Selbstverständlichkeit. Er war da, dieser berüchtigt seidene Faden, an dem alles hängt. Neben ihm zu Tisch sitzt sein Bruder. «Auf jeden Fall», sagt Martin Freiermuth ruhig und blickt zu ihm hinüber: «Er hat mir das Leben gerettet.»
Daniel Freiermuth war der passende Stammzellenspender für seinen Bruder. Er wies praktisch identische Immunsystem-Merkmale auf. Ein grosses Glück war es. Nicht immer ist bei Akuter Leukämie ein Lebensretter in nächster Nähe, sodass meistens auf die internationale Stammzelldatenbank zurückgegriffen werden muss – als letzte Hoffnung quasi. «Dennoch findet jeder Siebte noch immer keinen passenden Spender», sagt Martin Freiermuth, und man ahnt die Botschaft, die dahinter steckt. Die beiden Brüder wollen vor allem eines mit ihrer Geschichte: aufmerksam machen. Sensibilisieren für die sogenannte Stammzelltransplantation. Sie wollen zeigen, dass es sich lohnt, sich als Spender registrieren zu lassen und damit vor allem eines erreichen: Menschen am Leben halten.

Es drohte ein Organversagen
Mittendrin war er gestanden, Martin Freiermuth; mittendrin im Leben, als er sich, gerade erst dreissig geworden, plötzlich mit dem eigenen Sterben auseinandersetzen musste. Zwar schlug die sofort eingeleitete Chemotherapie an, doch bald kam der grosse Einbruch. Als einer von sehr wenigen reagierte er mit äusserst starken Nebenwirkungen auf die Therapie. Die Nierenfunktion lag gerade einmal bei zwanzig Prozent. Schleimhautentzündung, im Rachen, in der Speiseröhre. Übelkeit, Erbrechen, Haarausfall, künstliche Ernährung, Weihnachten 2015 nicht zuhause bei der Familie, sondern im Spital. Und plötzlich musste er sich entscheiden, denn: vorgesehen war, die Chemotherapie zu wiederholen, doch aufgrund der heftigen Reaktion drohte ein Versagen der Organe.
«Die Frage war klar», sagt Martin Freiermuth: «will ich mit einer Fortsetzung der Chemotherapie das Risiko eingehen, Leber und Niere zu zerstören und womöglich ein Leben lang von der Dialyse abhängig sein oder ziehe ich es vor, mich einer Stammzelltransplantation zu unterziehen.» Zu diesem Zeitpunkt war bereits klar: Nachdem sich die ganze Familie hat typisieren lassen, kam Daniel Freiermuth als möglicher Spender in Frage. «Es ist nicht üblich, mit 30 Jahren über den eigenen Tod nachdenken zu müssen», sagt Martin Freiermuth, der nach vielen Gesprächen mit den behandelnden Ärzten den Entschluss gefasst hatte, mit einer Stammzelltransplantation sich zurück ins Leben zu kämpfen. Die statistische Erfolgsquote liegt bei achtzig Prozent, durchaus ein Wert, der mehr als nur hoffen lässt. Bei so viel statistischer Realität macht nun mal aber auch die mögliche Endgültigkeit Angst: Bei rund zwanzig Prozent der Patienten schlägt diese Form der Therapie nicht an und sie sterben.

Wie aus dem Nichts
Das Gespräch mit dem jungen Mann lässt einen wieder einmal begreifen, dass die Definition von «Lebensqualität» schlagartig eine andere wird, wenn am Ende des Tages eine schockierende Diagnose die Weichen neu stellt. Es bleibt einem nur ein leeres Schlucken, wie Martin Freiermuth davon erzählt; von diesem schweren Moment, als er zum Telefon gegriffen und seinen Eltern wie aus dem Nichts hatte mitteilen müssen: «Ich habe Leukämie.» Dass der Tod wieder so nah mitten in die Familie rücken sollte, sagt Martin Freiermuth jetzt nachdenklich, das sei eine enorme psychische Belastung gewesen, für ihn, für die ganze Familie. Viele Jahre ist es her, doch vergisst man wohl nie: Martin Freiermuth hatte einen Zwillingsbruder; er starb noch im Kindesalter.

Überleben mit aller Kraft
Wenige Tage vor diesem Gespräch gingen Martin und Daniel Freiermuth in Möhlin auf die Strasse. Sie machten mit am dritten nationalen «Tag der Tat». Ziel bei dieser Standaktion: Bekanntmachung der Stammzellspende. Das Patronat in Möhlin übernahmen die Feuerwehr und der Samariterverein. Die Passanten konnten sich dabei vertieft informieren und sich als möglichen Spender registrieren lassen.
Ohne seinen Bruder Daniel hätte Martin Freiermuth diesen Tag vielleicht nicht mehr erlebt, vorbeigegangen war fast ein Jahr voller Emotionen. Hoffen, Bangen. Präsent sind die Momente, als er nachts im Spital lag und (zu viel) Zeit hatte, um über alles nachzudenken. «Ich müsste lügen, wenn ich sage, ich hätte nie geweint. Ich hatte schlimme Momente, ich hatte diese Momente der Angst, in denen alles über dich hereinbricht. Doch ich konnte stets auf mein Umfeld zählen. Auf meine Partnerin, auf meine Familie.» Und dann sagt Martin Freiermuth diesen Satz, der in dieser Geschichte auch Hoffnung für so viele Menschen sein möge: «Ja. Ich habe mit aller Kraft probiert, zu überleben.»

Ein neues Leben
Ironischerweise war es just sein 30. Geburtstag, als diese Geschichte hier begonnen hatte: 10. Oktober 2015. Denn hätte ihn damals nicht ein Bekannter mit einer Erkältung angesteckt, so, dass dieses Halsweh einfach nicht mehr wegging – es wären vielleicht weitere wertvolle Tage verstrichen, bis man beim Hausarzt merkte, dass sein Immunsystem praktisch inexistent war. Und dann, am 2. März 2016, sollte der Tag werden, der Martin Freiermuth ein neues Leben schenken würde. «Es gab zwei unabhängige Ärzteteams. Eines für mich und eines für meinen Bruder», sagt jetzt Daniel Freiermuth, der davon erzählt, wie sie ihm während einer Vollnarkose Knochenmark aus dem Beckenkamm entzogen. Insgesamt 1,4 Liter Flüssigkeit. Hätte er diesen Eingriff nicht über sich ergehen lassen wollen, so hätten die Ärzte Martin Freiermuth nicht über die Hintergründe informiert, sondern lediglich gesagt, der Spender wäre ungeeignet. Der Schutz des Spenders steht an oberster Stelle – deswegen auch zwei unabhängige Ärzteteams für die beiden Patienten, um notwendige Entscheide ohne jegliche Beeinflussungen treffen zu können. «Die Gesundheit des Spenders geht selbstverständlich vor», kommentiert Martin Freiermuth.

Um 8 Uhr beginnt die Operation für Daniel Freiermuth. Um 13.30 Uhr erwacht er aus der Narkose auf. Dreieinhalb Stunden später steht er voller Adrenalin mit seinem anderen Bruder Pascal und dem Vater am Spitalbett von Martin Freiermuth, via Skype zugeschaltet von zuhause sind die Mutter, die Grossmutter und die Freundin, als die Ärzte mit dem entscheidenden Moment beginnen. Mittels Venenkatheder tröpfelt die nächsten drei Stunden Flüssigkeit mit rund 37 Milliarden Zellen in den Körper von Martin Freiermuth. Es ist der Beginn einer neuen Hoffnung auf ein gesundes Leben, die sich erfüllen sollte und obschon jegliches Verklären dieser Geschichte unangebracht ist und nur die Fakten zählen, geschieht in diesem Moment Sonderbares: «Den ganzen Tag hindurch war es bewölkt. Doch als man mir die Infusion angehängt hatte, durchbrach zum ersten Mal an diesem Tag die Sonne die Wolkenwand. Sie schien durchs Fenster direkt auf diesen Beutel. Dieser Moment ist mir geblieben.»

Die kleinen Erfolge
«Wenn du plötzlich wieder die Kraft hast, ein Gurkenglas zu öffnen», sagt Martin Freiermuth und lächelt. Er erzählt von den kleinen Erfolgen im Leben, die es nach einer derartigen Leidenszeit zu feiern gilt. Die kritischen einhundert Tage sind mittlerweile vorbei. Sein neues Immunsystem, jenes seines Bruders sozusagen, scheint den Körper zu akzeptieren, sprich: es kommt zu keiner Abstossungsreaktion. Auffallend ist, dass Martin Freiermuth meistens die grammatikalische Form der Gegenwart wählt, wenn er von der Krankheit spricht. Das hat seinen Grund. «Ich selber fühle mich als geheilt. Medizinisch betrachtet habe ich aber Leukämie, und diese wird nun behandelt mit der Stammzelltherapie. Jetzt gilt es zu schauen, dass mein Immunsystem immer mehr Ellenbogen bekommt.» Kommt es nach fünf Jahren nicht zu einem Rückfall – das heisst, bilden sich bis dann keine neuen Tumorzellen – gilt man als geheilt.
Bleibt die Frage, ob diese schwere Zeit im Verhältnis zwischen den beiden Brüdern etwas verändert hat. «Eigentlich haben wir alle drei Brüder untereinander schon immer ein gutes Verhältnis gehabt», sagt Martin Freiermuth. «Okay», sagt Daniel Freiermuth und lächelt, «genau genommen sind wir jetzt einfach Blutsbrüder.» Mit der Transplantation hat Martin Freiermuth nicht bloss die Stammzellen seines Bruders übernommen, sondern auch dessen Blutgruppe (von 0 positiv zu 0 negativ).

Über ein Jahr nach der Diagnose nimmt Martin Freiermuth Schritt für Schritt den Weg zurück in die Normalität. Die Abstände zwischen den ärztlichen Kontrollen werden grösser, er hat wieder begonnen, zu arbeiten, den Alltag zu bestreiten und er versucht, dieses Gesundwerden anzunehmen als Geschenk ohne sich je in einer Bringschuld wähnen zu müssen. Und es bleibt dieser eine Satz am Ende ganz besonders haften: «Ich habe mit aller Kraft probiert, zu überleben.» Neben ihm lächelt einer leise. Es ist sein Lebensretter.


 

Gemeinsam gegen Leukämie
Es gibt zwei Arten, Blutstammzellen zu spenden: mittels Knochenmarkspende und mittels einer Spende von sogenannt peripheren Blutstammzellen. Bei der Knochenmarkspende (wie beim Fall von Daniel und Martin Freiermuth) wird das Knochenmark aus dem Beckenkamm entnommen. Dies erfolgt unter Vollnarkose. Die Spende von peripheren Blutstammzellen erfolgt in der Regel ambulant. Einige Tage vor der eigentlichen Spende werden dem Spender sogenannte Wachstumsfaktoren verabreicht, damit sich die Blutstammzellen vermehren. Es wird über einen Venenkatheter Blut entnommen. Blutstammzellen werden vom Blut getrennt und gesammelt. Das restliche Blut fliesst anschliessend über einen zweiten Venenkatheter zum Spender zurück. Zum Thema Blutstammzell- bzw. Knochenmarkspende gibt es diverse Broschüren und weiterführende Informationen darüber, wie man sich als möglicher Spender registrieren lassen kann. Viele Fragen und mögliche Ungereimtheiten werden in diesen Broschüren genauer geklärt. Zum Beispiel auch diese: «Das Knochenmark befindet sich im Stammskelett (Rippen und Beckenknochen) und ist verantwortlich für die Bildung von Blutzellen (…) Das Knochenmark ist nicht zu verwechseln mit dem Rückenmark: Eine Knochenmarkspende kann deshalb in keinem Fall zu einer Verletzung des Rückenmarks führen.» Weitere Informationen im Internet. (rw)

bloodstemcells.ch
blutspende.ch
sbsc.ch


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